: Justitia mit der Lupe
Obstbauern und Naturschützer protestieren gegen die drohende Industrialisierung des Alten Landes und das Vorgehen des Senats. „Wir können es nicht ertragen, dass das, was in 950 Jahren aufgebaut wurde, in einer Generation zerstört wird.“
von GERNOT KNÖDLER
Justitia sieht aus wie eine Krankenschwester mit Kopfverband. Ganz in Weiß sucht sie auf dem Jungfernstieg nach dem Recht für die Obstbauern und die Natur im Alten Land. Mit 110 Treckern sind die Bauern das dritte Jahr in Folge über die Elbe in die City gekommen, um den Hamburgern die Augen darüber zu öffnen, was der Senat mit ihren Steuermillionen zerstört. In ihren Augen hält sich der Senat bei seinen Planungen so wenig an Recht und Gesetz, dass Justitia es mit der Lupe suchen muss.
Gekommen sind Obstbauern von der Ersten bis zur Dritten Meile des Alten Landes. Zwar ist mit der Ortsumgehung Finkenwerder und der Airbus-Werkserweiterung samt Pisten-Verlängerung vor allem die Dritte Meile betroffen. Doch die geplanten Autobahnen A20 und A26 werden auch die übrigen Teile des Alten Landes zerschneiden und, so ihre Befürchtung, dessen Industrialisierung einleiten. „Dieser grässliche und gefährliche Fraß wird nicht an der Landesgrenze Halt machen“, warnte der Obstbauer und Kreistagsabgeordnete Hartwig Quast.
Karl-Heinz Timmermann vom Obstbau-Versuchs- und Beratungszentrum in Jork wies darauf hin, dass eine solche Entwicklung auch in wirtschaftlicher Hinsicht mehr schaden als nutzen würde. 1.500 Menschen arbeiteten im Anbau des Obstes, weitere 1.500 seien mit dessen Verkauf beschäftigt. 15 Prozent der Arbeitsplätze im Alten Land seien direkt vom Obstbau abhängig. Pro Jahr würden Äpfel, Birnen und Kirschen für rund 120 Millionen Euro verkauft.
Das größte geschlossene Obstanbaugebiet Deutschlands komme im Gegensatz zu anderen Wirtschaftszweigen ohne Subventionen aus. Jeder dritte in Deutschland erzeugte Apfel stamme aus dem Alten Land. Zigtausende Euros gäben die Bauern für Lagerhallen und Beregnungsanlagen aus. Jedes Jahr pflanzten sie eine Million Bäume neu.
Die geplante Ortsumgehung und die A26 würden viele Obstgärten in der Dritten Meile von zwei Seiten her beschneiden und so die Existenz der Menschen gefährden, die von diesen lebten. „Wir können es nicht ertragen, dass das, was in 950 Jahren aufgebaut worden ist, in einer Generation zerstört wird“, sagte Tiemann. Der Leiter des Beratungszentrums warf den Städtern, insbesondere der Bürokratie, „Arroganz“ gegenüber den Landwirten vor. „Man könnte anders miteinander umgehen“, ist seine fromme Hoffnung.
Die Bauern und Umweltschützer sind wütend, weil sie das Gefühl haben, sie würden vom Senat ausgetrickst: Sie wundern sich, dass Airbus zunächst eine kürzere Werkspiste beantragte, der Firma aber unter der Hand weitere Verlängerungen zugesichert wurden. Sie halten es für Unrecht, dass der Senat das Recht ändert, um Enteignungen auch für einen nicht öffentlichen Werksflugplatz zu ermöglichen. Sie haben Angst um ihre Heimat, weil der Senat Häuser in Neuenfelde südlich der Airbus-Piste aufkauft und ihre Pachtverträge nicht verlängert.
Die Bauern in einen Wettbewerb um die Pachtflächen zu treiben, sei der Versuch, den Widerstand zu spalten, befand Kerstin Hintz, Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Weltkulturerbe für das Alte Land, bei einer Kundgebung auf dem Jungfernstieg. „Missgunst und Neid ist das Ende“, warnte Hintz, und warb um Solidarität: „Wir waren 1.000 Jahre da, und wir werden die nächsten 1.000 Jahre auch noch dort wohnen.“
Die Wirtschaftsbehörde ließ erklären, sie gehe davon aus, dass sie sich mit den meisten Bauern „gütlich einigen“ werde.