Julien Gracqs Roman „Der Versucher“: Skandalöse Anwesenheit
Eine nachgeholte Übersetzung und zugleich eine Möglichkeit, diesen großen Einzelgänger zu entdecken: „Der Versucher“ von Julien Gracq.
An Büchern haften die Spuren ihrer Zeit. Im Fall des vorliegenden Romans, der 1945 im französischen Original erschien und uns erst jetzt in Übersetzung erreicht, ist es eine Epoche, in der ästhetizistische Vorstellungen noch immer von Einfluss auf die Intellektuellen waren und sich mit dem Gedanken des Übermenschentums verbanden. Dass das Schöne die Menschen in seinen Bann zieht, dass es sogar Unterwerfung heischt, Macht impliziert und Hierarchie, durchdringt auch Gracqs Roman.
Nicht von ungefähr hatte der Autor begeistert Ernst Jüngers „Marmorklippen“ gelesen und sich mit dem Deutschen, der ja die Tradition Baudelaires mit derjenigen Nietzsches verschmelzen wollte, daraufhin angefreundet. Erzähler des Buchs ist, bis auf den Schluss, der vom Autor selbst übernommen zu werden scheint, der junge Gérard, der sich an der bretonischen Küste in einem vornehmen Hotel eingemietet hat, um den Sommer zu verbringen und über Rimbaud zu arbeiten.
Die Beziehungen zu den übrigen Gästen absorbieren aber rasch sein gesamtes Interesse. Er führt bei Strandspaziergängen Gespräche mit Christel und Jacques, der schüchtern um diese Frau wirbt, oder beobachtet Irène und Henri, ein Ehepaar, das eine spannungsreiche Beziehung führt. Im Mittelpunkt steht jedoch die Figur Allans. Als dieser junge Mann, schön und elegant, im Hotel Einzug hält, erkennen alle seine Überlegenheit an, die sowohl in erotischer Ausstrahlung als auch in überdurchschnittlicher Intelligenz besteht, und suchen, sein geheimnisvolles Wesen zu ergründen.
Bei der Schilderung Allans geistert nun Ernst Jünger durch die Seiten. Einmal unternimmt man gemeinsam einen Ausflug, und Gracq beschreibt, wie herrisch, verwegen und bewusst gefährlich Allan das Auto steuert. Gérard kommt es vor, als erlebe er einen Jagdflieger im Einsatz oder könne einen Soldaten beobachten, der die Brust des Feindes durchbohrt. „Göttliche Reglosigkeit“ – der absolut fühllose, maschinenartige Umgang mit Wirklichkeit war ja auch ein zentrales Motiv von Jüngers Ästhetik. Frauen und Männer verfallen diesem Ausnahmemenschen gleichermaßen.
Julien Gracq: „Der Versucher“. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Droschl Verlag, Graz 2014, 231 Seiten, 23 Euro.
Nun wäre der Roman aber nicht so bedeutend, wenn er nicht zugleich über Jünger hinausginge. Wo Jünger stehen bleibt, beim metaphysischen Blick aufs große Ganze, beim Willen zu weltanschaulicher Vergewisserung, arbeitet Gracq weiter. Nicht von ungefähr war er nämlich auch mit André Breton befreundet und verdankte dem Surrealismus bedeutende Anregungen.
Dies führte ihn zu dem entgegengesetzten Impuls, der dieses Werk schließlich so lesenswert macht: dem aus tiefer Überzeugung entspringenden Unterfangen nämlich, sich aller Herrschaft gerade zu begeben. Kein Wesen soll geschaut, Ratio vielmehr verabschiedet werden. Daher gibt er seinem Buch einen entschiedenen antiökonomischen Zug. Das übliche menschliche Geschäft der Selbsterhaltung soll unterbrochen werden.
Als Allan im Hotel eintraf, hatte er insgeheim bereits die Absicht, am Ende des Sommers Selbstmord zu begehen. Damit, dass er sich in seinem Zimmer ein Glas mit Gift bereitstellt, endet die Erzählung. Diese konsequente Wendung des unbedingten Herrschaftswillens gegen sich selbst ist nicht nur als politische Parabel über das Ende des deutschen Faschismus lesbar, sondern vor allem auch als poetologisch-denkerische Erkenntnis.
Der Adler, der in der Höhe kreist, bekommt am Ende nichts auf die Netzhaut. Das Zeitalter der Metaphysik ist vorüber. Auf diese Weise kommt es zu einer Fülle von brillanten Formulierungen, die den Leser immer wieder innehalten lassen. Gleich auf der zweiten Seite etwa stößt man auf folgenden Satz, als Gérard allein über den Strand schlendert und verschiedene Eindrücke in sich aufnimmt: „So habe ich mir manchmal auch vorgestellt, ich schleiche nach dem Ende der Vorstellung um Mitternacht in ein leeres Theater und erblicke von dem dunklen Saal aus ein Bühnenbild, das sich zum ersten Mal weigert mitzuspielen.“
Kann die EU ein Zuhause sein? Ja, finden Silvia Koch-Mehrin und Ursula von der Leyen. Für wen Brüssel ein Sehnsuchtsort ist und wie junge Griechen in einer verslumten Gasse ihre Zuversicht wiederfinden, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. April 2014. Außerdem: Die letzte Fotoreportage von Anja Niedringhaus. Sie wurde bei ihrer Arbeit in Afghanistan erschossen. Und: Warum viele Palästinenser bei einem Filmprojekt über Jerusalem nicht mitmachen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Die Wirklichkeit will nicht länger Kulisse für den handelnden Menschen sein. Was bekommt ein Mensch zu sehen, der es in seiner Haltung zur Welt nicht länger auf etwas abgesehen hat? Diesen Augenblick sucht Gracq auf, in dem die Dinge ausscheren und nicht länger mitspielen wollen. Nach einem solchen Satz weiß man, dass man das Buch bis zum Schluss weiterlesen wird.
Die Kategorie der Plötzlichkeit spielt eine große Rolle. Immer wieder soll etwas festgehalten werden, was sich unvermutet darstellen will und den Betrachter in seiner Perzeption zu überwältigen droht. Über die Begegnung mit einer Frau heißt es einmal: „Im Halbdunkel aufrecht neben mir sitzend, veranschaulichte sie plötzlich das unbegreifliche unmittelbare Bevorstehen des Traums; eine dieser Statuen, die plötzlich, nachdem man einen insistierenden Blick auf sich ruhen gefühlt und sich plötzlich umgedreht hat, an unserer Seite stehen und über unsere Schulter hinweg gedankenversunken einen Punkt am Horizont anstarren.“
Der Satz bietet vielleicht eine der schönsten Formulierungen für die surreale Denkfigur des dépaysement. Das Ich wird von der Erfahrung, dass es sich aus den vertrauten Bezügen herauszuwinden gilt, wie von einem Blitz getroffen; es weiß sich aufgefordert, aus seiner Verfallenheit an das alltägliche Tun herauszutreten.
Es ist kein Zufall, dass sich die eindringlichsten Beschreibungen von Landschaften und Räumen im Hinblick auf den nahenden Winter finden, als die meisten Gäste nach Hause gefahren sind, Strand und Hotel sich geleert haben. Hier gelingen Gracq Sätze, die ihresgleichen suchen. Dieser Autor zeigt, wie der Surrealismus nach wie vor gültiges Erbe sein kann.
Als großem Einzelgänger der Literatur, der er trotz dieser historischen Filiationen gewesen ist und den wir jetzt endlich entdecken sollten, war ihm die Einsicht beschieden, dass erst ein Schreiben, das allen Betrieb zum Stillstand bringt, uns eine Wirklichkeit zu zeigen vermag, die blendet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!