Julia Lorenz Ausgehen und rumstehen: Nein danke, wir wollen nicht im Watergate weiterfeiern
Zu den Dingen, die ich früher besser konnte als heute, zählen Schönschreiben, lange Telefongespräche zu ertragen und Nichtstun. Vor allem Letzteres ist ein herber Verlust. Ich erinnere mich an ganze Sommerferienwochen, die ich damit verbrachte, zwischen Omas Garten und Stube zu pendeln, Eis zu essen, Halbsätze und Zeichnungen in Hefte zu kritzeln und die Nächte mit ausführlichem MTV-Gucken zu verbringen, weil ich Musikvideos von Nirvana sehen wollte. Und YouTube noch nicht erfunden war.
Zwischen Studium und Arbeitsleben habe ich irgendwie verlernt, wie heilsames Kopfausleeren funktioniert. Am liebsten würde ich selbst das kleinste bisschen Freizeit mit Sinn füllen, mit Aktivitäten, die man an einem Freitagabend mit seinem Gewissen als aufmerksame Beobachterin der Kulturszene vereinbaren kann: endlich mal wieder im Funkhaus Nalepastraße vorbeischauen. Zu einer Performance ins HAU fahren. Oder nach Hause, den nicht mehr ganz so neuen Roman von Frank Witzel lesen. Vorher zu Dussmann, den neuen Frank Witzel kaufen und sich dabei daran erinnern, dass man noch nicht mal den alten ausgelesen hat.
Verlässt man aber erst um 9 Uhr abends das Büro, will die Sache mit der anspruchsvollen Abendgestaltung nicht mehr wirklich klappen. Setzen wir uns also in eine Bar in Moabit und laden wir die einzigen beiden Freunde ein, die nicht mit Grippe im Bett liegen. Verhaltensrichtlinie: kleines Feierabendbier. Klappt natürlich nicht, denn meine Mitbewohnerin, Barfrau mit der unbestreitbar besten Playlist der Stadt, schiebt Bierlikör in besorgniserregender Taktung über den Tresen. Wie es dann plötzlich 5 werden konnte, wundert uns dennoch, als wir die Bar abschließen.
Wir schlafen, bis die hungrige Katze nach Futter verlangt, und frühstücken, bis die Nachmittagssonne über dem Westhafen steht. Warten auf den Abend. Auf einer WG-Feier beginnt die Nacht, dann ziehen wir weiter auf eine Party im Keller des Moabiter Zentrum für Kunst und Urbanistik. Obwohl der Techno genauso böse ist, wie ich ihn am liebsten mag, verbringe ich die Nacht hauptsächlich auf die freundlichste Art: Ich sitze am Rand und trinke Bier mit Menschen, die ich viel zu lange nicht gesehen habe.
Nein danke, wir wollen nicht im Watergate weiterfeiern. Ja, wir kaufen lieber Kaffee und Soba-Nudeln im Späti und fahren in T.s WG: alte Folgen der US-Serie „Scrubs“ schauen. Auf dem Sofa lümmelnd und vergraben unter einer schweren Decke, komme ich mir vor, als zeige ich diesem schönen, lichten Morgen, dem ersten Sonnentag seit einer gefühlten Ewigkeit, angenehm lustlos den Mittelfinger. Als sei ich wieder 14 und drücke mich davor, die Schulaufgaben für Montag zu erledigen. Ich kann’s noch.
Als ich zwei schöne, verbummelte Stunden nach Hause spaziere, realisiere ich: Über Nacht hat die Stadt die Kälte abgestreift, vielleicht endgültig für diesen Frühling. Im Simit Evi, dem Sesamringhaus in der Müllerstraße, reicht man Teigtaschen und Rührei über die Theke; unter die Bäume im Schillerpark werden sich bald schon die ersten Draußenleser des Jahres mit ihren Taschenbüchern setzen, und selbst der Leopoldplatz sieht im Morgenlicht nicht ganz so räudig aus wie sonst. Sogar irgendwie adrett, als wolle er die Menschen, die ihn so geschäftig passieren, so strahlend wie möglich empfangen. Ich denke: beinahe ein Ferientag. Schade, dass Oma so weit entfernt wohnt. Und dass auf MTV keine Musik mehr läuft.
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