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Julia Boek Teilnehmende BeobachtungDas Gefühl von Gemeinschaft, genau hier am Kuchentresen

Foto: Axel Völcker

Beruhige dich“, pöbelt der Besoffene, als ich ihn darauf hinweise, dass er mich beim ruckartigen Anfahren des Busses angerempelt hat. Gerade hat die bayerische Trachtengruppe die Festwiese am Kurt-Schumacher-Platz verlassen. Jetzt stolpern die kreischenden Dirndl und grölenden Lederhosen in den Bus. Die Stimmung gefriert, demonstrativ schauen die Fahrgäste aus dem Fenster. Der Rempler hat eine stinkende Alkoholfahne, die mir süßlich um die Nase weht. Obwohl er in den nächsten Minuten etliche Male gegen meinen Koffer stößt, beschließe ich nichts mehr zu sagen. Ich befürchte, dass er mir in den Nacken kotzt.

Ein sogenanntes Kinder-Café mit Spielzimmer in der Pankower Florastraße. Freundin Ma­rijke, ihre kleine Tochter und ich haben uns auf einen Kaffee verabredet. Um in den Spielraum zu gelangen, müssen wir uns am Eingang die Schuhe ausziehen. Direkt in der Tür sitzt der kleine Jonas. Er soll sich die Schuhe selbst ausziehen. Doch darauf scheint der Kleine gerade keine Lust zu haben. Er wirft Bälle, greift nach einem Buch, kiekst. Daneben Jonas’ Eltern, besoffen vor Glück um ihr Geschöpf, das sie ausgiebig studieren. Auch nachdem sich vor dem Spielzimmer eine Schlange gebildet hat. Einige Kaffeetrinker haben sich die Schuhe schon im Gang ausgezogen. Es warten also vier Erwachsene und ein kleines Mädchen auf Socken darauf, dass Familie Jonas einen Schritt zur Seite geht.

Der Ellenbogen des Dränglers, die vor der Nase zugeschlagene Tür, bestimmt haben Sie es erlebt. Und würden hier nun ein Busfahrer oder eine Lidl-Kassiererin auspacken, die Bilanz würde wohl sehr viel schlechter ausfallen. Die Art und Weise, wie wir in der Öffentlichkeit miteinander umgehen, der Ton, in dem wir miteinander sprechen, ändert sich – und zwar quer durch alle gesellschaftlichen Milieus.

Muffins auf Facebook

Erst neulich las ich in einem Buch über den Anstand, geschrieben von SZ-Kolumnist Axel Hacke: „Wir haben das Gefühl dafür verloren, was es bedeutet, eine Gesellschaft zu sein, zusammenzugehören, sich auseinanderzusetzen, wir haben so oft kein Ideal mehr davon, was es bedeutet ein Bürger zu sein, wir sind getrieben von der technischen Entwicklung, von der Nötigung zur ständigen Selbstdarstellung, von diffusen Ängsten.“ Eine treffende Diagnose. Denn fanden nicht jene diffusen Ängste, etwa vor der Unübersichtlichkeit der digitalen, globalisierten Welt, nicht Ausdruck in absurden Erzählungen, zum Beispiel über Flüchtlinge, die den einheimischen Müttern in den deutschen Vorstädten die Kindergartenplätze wegschnappten?

Auch als ich später durch die Posts auf meiner Facebook-Seite scrolle, fallen mir die Beobachtungen über die permanente Selbstinszenierung wieder ein. Auf Facebook sehe ich Urlaubsfotos von Palmenstränden, jemand hat Blaubeer-Muffins gegessen, ein anderer postet seinen handgeschriebenen Einkaufszettel: „Karotten, Brot und Bier. Yeah!“

Hacke schreibt, dass wir, während wir immerzu an unserem Ego basteln, vergessen, dass es eigentlich um ein Miteinanderauskommen mit anderen und damit um das Hinauswachsen über die eigenen Instinkte im Sinne einer funktionierenden Gesellschaft geht.

Also nicht um Etikette, Manieren oder überzogene Moralvorstellungen, es geht schlicht um ein Sich-Zurücknehmen, das hin und wieder auch im Tun für andere mündet.

So wie der Mann neulich in einer Bäckerfiliale in der Friedrichstraße. Bevor er die Verkäuferin um ein Brot bat, beendete er sein Telefongespräch und grüßte freundlich. Die Verkäuferin packte das gewünschte Brot in eine Papiertüte, nahm sein Geld. Als sie ihm das Wechselgeld rausgab, sagte sie für alle hörbar: „Mein lieber Herr, normalerweise macht niemand sein Telefon aus, wenn er hier etwas bestellt. Danke, dass Sie das gerade für mich getan haben.“

Der Mann und wir Kunden in der Schlange staunten. Die Verkäuferin hatte einen wahrhaftigen Moment geschaffen. Genau hier am Kuchentresen war es stark zu spüren, das Gefühl von Gemeinschaft. Und es fühlte sich gut an.

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