Jürgen Krüger versetzte das DDR-Regime in Angst: Die DDR mal ernst genommen
Jürgen Krüger meldete im Februar 1989 die erste Oppositionsgruppe an. Er wollte testen, ob die DDR jüngst versprochene Freiheitsrechte erfülle. Mit einfachsten Mitteln versetzte er das Regime in Angst.
Er hat alles aufbewahrt und säuberlich abgeheftet. Die Durchschläge seiner Briefe, getippt auf der Reiseschreibmaschine mit eingespannter Blaupause, die Rückscheine der Einschreiben, die Zeitungsartikel. Jürgen Krüger, ein schwerer Mann mit durch die Jahre gerettetem Vollbart, legt den Ordner auf den Tisch seiner Junggesellenwohnung an der Danziger Straße, vierter Stock mit Blick auf den Volkspark Friedrichshain. Ein Zimmerspringbrunnen und ein kleiner Zen-Garten stehen auf dem Wohnzimmertisch, der Schreibtisch im Nebenzimmer wird von einem riesigen Monitor ausgefüllt. Nach 20 Jahren Jugendarbeit hat Jürgen Krüger seinen Arbeitgeber Kirche verlassen, er betreibt jetzt ein Kiez-Portal im Internet.
Krüger jagt seinen orange getigerten Kater aus dem Wohnzimmer und erzählt: wie er, damals 28 Jahre alt und Kreisjugendwart des Kirchenkreises Berlin-Stadt I, im Februar 1989 den ersten Antrag auf Gründung einer Oppositionsgruppe in der DDR abgab - ein halbes Jahr vor dem Neuen Forum.
Sie waren nur zu zweit, Krüger und ein Kollege aus dem brandenburgischen Finsterwalde. Als politische Provokation war der Antrag gedacht. Als Test, wie die Behörden des SED-Staates mit den bürgerlichen Freiheiten umgehen würden, von deren Einhaltung im Januar 1989 beim Folgetreffen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Wien so viel die Rede gewesen war. Dort hatte DDR-Außenminister Oskar Fischer das abschließende Dokument unterschrieben. In der Auflistung der gemeinsamen Prinzipien heißt es in Punkt 26: "Das Recht von Personen, die Durchführung der KSZE-Bestimmungen zu beobachten und zu fördern und sich mit anderen zu diesem Zweck zusammenzuschließen", werde von den Mitgliedstaaten geachtet.
"Wir geben Weisung, dieses Dokument zu unterzeichnen, werden es aber nicht erfüllen", soll Honecker gesagt haben, berichtete später der sowjetische Botschafter in der DDR. Als besonders gefährlich galten den Machthabern zwei Punkte: die Vereinigungsfreiheit und die Reisefreiheit. Unter Punkt 20 war das Recht eines jeden auf ungehinderte "Ausreise aus jedem Land, darunter seinem eigenen", festgeschrieben. Ein Recht, das im Januar 1989 weit mehr DDR-Bürger interessierte als das, Vereine zur Förderung des KSZE-Gedankens zu gründen.
Jürgen Krüger und sein Finsterwalder Kollege aber wollten nicht ausreisen. Sie wollten ihr Land auf die Probe stellen. Wenn die DDR so tat, als sei sie ein Rechtsstaat, was würde passieren, wenn man sie als Rechtsstaat ernst nehme? Sie würden abwarten, wie das System auf diese Provokation reagieren würde. Nach einem Jahr, so hatten die beiden es geplant, würden sie den Briefwechsel mit den staatlichen Stellen in Kirchenkreisen veröffentlichen. Zwei Diakone begannen mit einer naturwissenschaftlich anmutenden politischen Versuchsanordnung.
In der DDR durfte man nicht einfach einen Verein gründen, dazu brauchte es eine Erlaubnis. Auf der Reiseschreibmaschine schrieb Jürgen Krüger eine Anmeldung zur Gründung einer "Vereinigung zur Beobachtung und Förderung des KSZE-Gedankens in der DDR". Der sperrige Titel war Absicht, erzählt er, direkt übernommen aus der Helsinki-Schlussakte. Der Brief, datiert vom 30. Januar 1989, ging ans Ministerium des Innern, Leiter der Hauptabteilung Innere Angelegenheiten, Berlin, 1086, DDR. Einschreiben mit Rückschein. Damit die Bürokraten sich nicht herausreden können, die Post sei verloren gegangen.
Was nun passierte, erfuhr Jürgen Krüger erst zehn Jahre später, als die Stasi-Unterlagen-Behörde einige Dokumente ins Internet stellte, auf denen sein Name und Lebenslauf zu lesen war. Ungeschwärzt. "Die sagten mir, das sei in Ordnung so, ich sei schließlich eine Person der Zeitgeschichte. Das war mir auch neu", sagt Krüger mit knappem Berliner Humor. So ganz falsch ist das vielleicht auch nicht.
Die Dokumente zeigen die Paranoia des DDR-Apparates in seinem letzten Jahr. Im Ministerium für Staatssicherheit wurde am 16. Februar 1989 ein Dossier ("Streng geheim!") angelegt. Krüger sei wegen seiner Kontakte gefährlich, ist dort zu lesen. Seit seiner Ausbildung zum Sozialdiakon Anfang der 80er-Jahre kannte er die Oppositionspfarrer Rainer Eppelmann und Rudi-Karl Pahnke. Auf seiner ersten Stelle in Fürstenwalde gründete Krüger eine Arbeitsgruppe Frieden und Gerechtigkeit, er lud das mit Auftrittsverbot belegte Künstlerpaar Stephan Krawczyk und Freya Klier zu Konzerten ein. 1988 demonstrierte er gegen Zensur in Kirchenzeitungen.
Das alles machte die Stasi unruhig - damit lag sie richtig und zugleich falsch. Dass der Antrag ein Testballon war, verstanden sie. Dass er aber von Krüger allein losgelassen worden war, konnten sie nicht glauben. Dahinter mussten noch andere stehen. "Mit hoher Wahrscheinlichkeit" sei er "durch reaktionäre kirchliche Kreise inspiriert" worden. Vorsicht war angezeigt.
Am 21. Februar sprach Stasi-Chef Erich Mielke mit Honecker über den Fall Krüger. Für seinen Vize Rudi Mittig notierte Mielke handschriftlich die Anweisungen zurück: "1. Krüger weiter bearbeiten, 2. Schreiben nicht beantworten". Jürgen Krüger bekam von dem verstärkten Interesse der Mielke-Männer nichts mit. Allerdings geschah Merkwürdiges. "Alle Post aus dem Westen kam plötzlich bei mir anstandslos an. Wir hatten bei der SPD und der Bundeszentrale für politische Bildung als Helsinki-Gruppe Material bestellt. Normalerweise ging das nicht durch. Jetzt schon." Als im Sommer Krügers Onkel in Westdeutschland starb, bekam er ebenfalls anstandslos ein Visum für vier Wochen. Bei der Rückkehr durfte er die Stalin-Biografie behalten, die Grenzer in seinem Gepäck gefunden hatten. Den "reaktionären Kirchenkreisen" sollte keine Gelegenheit gegeben werden, offene Repressionen zu notieren.
Jürgen Krüger liest die Dokumente und schüttelt den Kopf. "Diese Paranoia erklärt doch den Untergang der DDR. Wir waren zwei Leute mit einer Reiseschreibmaschine, sonst nichts."
Bald war er alleine. Sein Finsterwalder Kollege stieg im Sommer 1989 aus dem Experiment aus. Krüger wurde am 1. August ins Innenministerium bestellt. Die Atmosphäre war eisig. "Für eine derartige Vereinigung gibt es bei uns keinen Bedarf", wurde ihm beschieden, schließlich verwirkliche die DDR "schon seit ihrer Gründung aktiv den KSZE-Prozess, sie betreibt eine aktive Friedenspolitik". Wenn die Umgebung nicht so bedrohlich gewesen wäre, hätte er laut gelacht, erzählt Krüger 20 Jahre später.
Es folgt der Herbst der Revolution. An seinen Versuchsballon dachte Krüger kaum noch. Am Abend des 7. Oktober, des letzten Republikgeburtstags, lief er vom Gendarmenmarkt nach Hause. Im Palast der Republik feierte die Nomenklatura. Plötzlich war Krüger, ohne es zu wollen, an den Absperrungen vorbei und stand auf der anderen Seite. Ein skurriler Augenblick: "Das war eine ganz neue Perspektive, ich stand buchstäblich auf der Seite der Mächtigen, die sich vor dem Volk verbarrikadierten."
Die Mächtigen aber erinnerten sich in der Auflösung ihres Staates an Krügers Antrag. Vielleicht hielten sie es sogar für einen Befreiungsschlag, der kirchlichen Opposition zu geben, was sie augenscheinlich verlangt hatte. Jedenfalls erfuhr Jürgen Krüger Anfang Dezember aus der Zeitung, dass er seinen Verein gründen durfte. Die Provokation war kurz davor, zur Farce zu werden. Doch die Helsinki-Gruppe hatte für kurze Zeit ihre Berechtigung. Sie wuchs über Berlin hinaus. In Sachsen nutzten einstige Bautzen-Häftlinge den Verein, um für ihre Rehabilitierung zu kämpfen. Nach der Vereinigung war auch das erledigt.
An der Wohnzimmertür poltert es, der Kater begehrt Einlass. Krüger räumt die Papiere zusammen, lacht kurz auf. Dann wird er ernst: "Das klang jetzt alles ganz witzig", sagt er. "Aber wenn wir nicht den Schutz durch die Kirche gehabt hätten, wäre es nicht so glimpflich abgegangen." Krügers Experiment war eines mit Netz und doppeltem Boden.
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