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Archiv-Artikel

Joy of Sex, Kinderausgabe

Kein Mensch wird mir glauben: Augusten Burroughs erzählt in seinem haarsträubenden Roman „Krass!“ die Geschichte seiner kaputten Kindheit und hatte damit in den USA einen Bestseller

VON KOLJA MENSING

Das Einfamilienhaus der Eltern steht direkt am Waldrand. Die Bücherregale sind gut gefüllt, auf der mit Kies bestreuten Einfahrt steht ein Dodge-Aspen-Kombi und vor dem offenen Kamin im Wohnzimmer liegt Cream, der gutmütige Golden Retreaver. Es ist ein amerikanisches Idyll, doch leider, schreibt Augusten Burroughs, „leider hassten meine Eltern einander und das Leben, das sie sich zusammen aufgebaut haben“. Augustens Vater ist ein „ausgesprochen sachlicher alkoholkranker Mathematikprofessor“, seine Mutter raucht Kette und schreibt Gedichte, die in Hausfrauen-Magazinen veröffentlicht werden, und wenn die beiden sich nicht gerade John-Updike-Romane an den Kopf werfen, versuchen sie sich gegenseitig zu erwürgen: „Der Schwächling spielt nur wieder eines seiner armseligen Spielchen“, beruhigt die Mutter ihren Sohn, der wieder einmal Zeuge eines handfesten Ehestreits geworden ist, und stößt ihren auf den Küchenboden liegenden Mann nachlässig mit dem Fuß an: „Steh auf, Norman. Du jagst Augusten Angst ein.“

Heute ist Augusten Burroughs 39 Jahre alt, und sein autobiografischer Roman „Krass!“ erzählt die Geschichte einer vollkommen kaputten Kindheit an der amerikanischen Ostküste. Die Eltern schaffen es zwar, sich scheiden zu lassen, bevor der Ehestreit tatsächlich tödlich endet, doch für Augusten wird das Leben dadurch noch lange nicht so „Weichspüler/Thunfischsandwich/Elternabend-normal“ wie er es sich vorstellt. Das Problem ist, dass seine Mutter verrückt ist, und zwar „nicht verrückt im Sinne von lasst uns die Küche knallrot streichen! Sondern verrückt im Sinne von Gasofen, Zahnpastasandwich, ich bin Gott.“ Acht Jahre ist Augusten, als seine Mutter zum ersten Mal aufgrund ihrer psychotischen Schübe in eine geschlossene Anstalt eingeliefert wird, und da sein Vater nach der Scheidung nichts mehr mit seinem Sohn zu tun haben will, wird er während der nächsten Krise seiner Mutter bei der Familie ihres, vorsichtig gesagt: exzentrischen Psychiaters Dr. Finch untergebracht: „Nicht lange“, tröstet sie ihn. „Zwei Tage. Vielleicht eine Woche.“ Augusten bleibt fünf Jahre. Fünf Jahre, die durch Verwahrlosung, Wahnsinn und sexuelle Übergriffe bestimmt sind.

Es sind die Siebzigerjahre, und Dr. Finch nimmt es ernst mit der antiautoritären Erziehung und der sexuellen Freizügigkeit. Auf den ersten Blick ist das ganz amüsant. Während der Psychiater sich in sein „Masturbatorium“ hinter seinem Sprechzimmer zurückzieht, lässt er seine Kinder mit seinem alten Elektroschockgerät spielen und schert sich auch sonst nicht viel um sie, wie Augusten feststellen muss: „Freiheit hatten wir genug. Es war keiner da, der uns sagte, wann wir ins Bett mussten. Keiner, der uns sagte, wir müssten unsere Hausaufgaben machen. Keiner, der uns sagte, dass wir nicht zwei Sixpacks Budweiser trinken und anschließend in die Waschmaschine reihern durften.“

Die Episode mit dem Elektroschockgerät geht glimpflich aus, und auch die Begeisterung, mit der Dr. Finch seine ganze Familie zur Stuhlschau in die Toilette ruft, hält erfreulicherweise nur eine gewisse Zeit an. Doch in dem gleichen halb belustigten, halb überraschten Tonfall, der an David Foster Wallace und David Sedaris erinnert, beschreibt Augusten Burroughs auch das Netz aus sexuellem Missbrauch, in dem er sich zuletzt selbst verfängt. Schon bald stellt sich nämlich heraus, dass die besonderen Therapiemethoden des Doktors vor allem darin bestehen, seine Patientinnen mit Psychopharmaka ruhig zu stellen und dann zu vergewaltigen. Auch die freizügige Erziehung seiner Kinder weiß Finch zu seinem eigenen Vorteil zu verwenden: Schulterzuckend überlässt er die dreizehnjährige Nathalie einem wohlhabenden Geschäftsmann als Pflegetochter und Liebhaberin, nur um später mit dem in einem außergerichtlichen Vergleich erstrittenen Schmerzensgeld seine Praxis zu sanieren.

Als der mittlerweile ebenfalls dreizehnjährige Augusten den Finchs beichtet, dass er später nicht nur „irgendetwas mit Haaren“ machen will, sondern darüber hinaus glaubt, schwul zu sein, ist seine Pflegefamilie ganz aus dem Häuschen über diese Abweichung von der heterosexuellen Norm – und macht ihn umgehend mit ihrem erwachsenen Adoptivsohn Neil bekannt. Der ist Ende dreißig und steht zufällig nicht nur auf Männer, sondern auch auf kleine Jungs. „Ich wollte dir nur zeigen, was dich erwartet, weißt du. Wenn du schwul bist und so“, erklärt er Augusten, nachdem er ihm zum ersten Mal „seinen Schwanz in die Kehle“ gesteckt hat. Und es bleibt nicht dabei. „Joy of Sex (Kinderausgabe)“ ist das nächste Kapitel überschrieben.

Augusten erträgt eine Menge, „weil ein bisschen Beachtung besser ist als gar keine Beachtung“, und darum meint er auch Nathalie zu verstehen, die ihre Zeit als „Pflegetochter“ gar nicht so schlimm fand: „Ich wusste genau, wie das war. Jemanden zu lieben, der es nicht verdient hat. Weil er alles ist, was du hast.“ An einem der Nachmittage, an denen Dr. Finch wieder einmal dem Rest seiner anal fixierten Familie eine ganze Sammlung getrockneter Exkremente vorführt, ist es dann auch Nathalie, die Augusten den vermutlich einzig vernünftigen Rat seiner gesamten Kindheit und Jugend gibt: „Du solltest diese Geschichten wirklich aufschreiben.“ Augusten allerdings hat seine Zweifel: „Selbst wenn ich es täte, kein Mensch würde mir glauben.“

Eine zum Teil berechtigte Befürchtung. Die amerikanischen Leser lieben Augusten Burroughs zwar für seine haarsträubenden Bekenntnisse, und „Krass!“ ist genauso wie der Nachfolgeband „Dry“ in den USA zum Bestseller geworden. Doch nicht wenige Kritiker werfen ihm vor, sich doch etwas zu gut an all die wahnwitzigen Einzelheiten seiner Leidensgeschichte zu erinnern. Ein Reporter des Observer unterzog während eines Interviews sogar das Gesicht des Autors einer eingehenden Überprüfung: Waren die Narben, die die glühenden Zigaretten von Augustens Vater hinterlassen haben sollen, wirklich zu sehen? Burroughs bleibt dabei, dass er sich an die Fakten gehalten hat. Er beruft sich auf seine Tagebücher, die er seit seinem neunten Lebensjahr akribisch geführt hat, und er hat sogar die Verpackung des Nestle-Crunch-Riegels aufbewahrt, auf den Neil ihm damals den liebevollen Satz „Du bist nur ein Sexobjekt“ geschrieben hat. Allein die Namen der Beteiligten seien auf Anraten seines Verlags geändert worden. Auf Nachfragen präsentiert Augusten Burroughs jedoch E-Mails, die andere Opfer von „Dr. Finch“ ihm geschrieben haben, nachdem sie sein Buch gelesen haben, und in einem Nachwort zu „Krass!“ erfährt man, dass der Psychiater, der sich hinter diesem Namen verbirgt, zuletzt aufgrund eines Versicherungsbetrugs seine Approbation verloren hat und mittlerweile verstorben ist.

Letztlich ist die Frage jedoch nicht, an welcher Stelle Augusten Burroughs die Schwelle von der Autobiografie zum autobiografischen Roman überschritten hat oder ob er ähnlich wie der vermeintliche KZ-Häftling Binjamin Wilkomirski in seinem Buch „Bruchstücke einer Kindheit 1939–1948“ vor einigen Jahren das Opfer eines „false memory syndrom“ ist. Die eigentliche, über die individuelle Leidensgeschichte weit herausreichende Tragödie, die „Krass!“ erzählt, liegt nicht in den Details des körperlichen Missbrauchs begründet, sondern in der ungebrochenen Überzeugung, mit der eine ganze Generation sich auf Kosten ihrer Kinder selbst verwirklichte. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass ich wirklich in der Lage bin, ich selbst zu sein“, fährt Augustens Mutter ihren Sohn an, als er sie zwischen zwei Klinikaufenthalten in ihrer Wohnung besucht und ihr und ihrer besten Freundin Fern beim Sex auf dem Wohnzimmersofa zugucken darf. „Ich hoffe deshalb, du unterstützt meine Beziehung mit Fern, Augusten. Denn ich habe einen Punkt in meinem Leben erreicht, an dem ich keine Unterdrückung mehr brauche und auch keine mehr dulden werde. Jahrelang, mein ganzes Leben lang habe ich gegen meine Unterdrücker kämpfen müssen. Ich hoffe, ich muss nicht auch gegen dich kämpfen.“

Als Fern ihn anschließend versöhnlich in ihre Arme schließen will, versucht Augusten in einer wunderbaren, slapstickartigen Szene ihrem tröstenden Mund auszuweichen, der sich gerade noch zwischen den feuchten Schenkeln seiner Mutter befunden hatte, und die wahre literarische Größe dieses Buch liegt in der Eleganz, mit der der hochneurotische, verstörende und zuweilen durchaus lebensbedrohlichen Familien- bzw. Pflegefamilienterror ins Sitcom-Format überführt wird. An solchen Stellen ist plötzlich alles so leicht wie Papier: „Ich möchte auch meiner Mutter und meinem Vater danken“, schreibt Augusten Burroughs in einer kurzen Vorbemerkung zu „Krass!“. „Sie haben mir, wenn auch unbeabsichtigt, eine unvergessliche Kindheit beschert.“

Augusten Burroughs: „Krass!“ Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004, 365 Seiten, 19,90 €