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Journalisten stören Schweigen für Barbies Opfer

■ Auf der Suche nach den Augenzeugen von Barbies Deporation jüdischer Kinder und Lehrer aus Izieux zertreten Journalisten rücksichtslos Blumenbeete / Der einzige Augenzeuge, Julien Favet, flüchtet humpelnd vor der Presse

Aus Lyon Dietrich Willier

Zum Auftakt des Prozesses gegen den „Schlächter von Lyon“, Klaus Barbie, erfuhr die winzige Gemeinde Izieux/Ain, hoch über der Rhone am Rande des Jura, ihre vorläufig letzte und harmloseste Invasion. Für eine Stunde nur gab sich die Weltpresse, wenigstens hundert Journalisten, Fotografen und neun Fernsehteams, ein Stelldichein im äußersten Winkel des Departements. Der einzige Zeuge der Deportation von 44 jüdischen Kindern und ihren Betreuern durch die deutsche Gestapo aus ihrem Heim bei Izieux, Julien Favet, wurde so lange mit Mikrofonen und Kameras drangsaliert, bis er humpelnd und schimpfend die Flucht ergriff. Der kleine Bauernhof, auf dem er bis heute arbeitet, liegt etwas unterhalb der kleinen Gemeinde Izieux. Daneben das Schulheim für jüdische Kinder aus Lyon und dem Departement. Aus Angst vor der deutschen Gestapo hatten die jüdischen Eltern ihre Kinder damals schon einige Zeit in diesen abgelegensten Winkel des Departements geschickt, Kinder zwischen drei und 14 Jahren. Bevor die Gestapo kam, waren einige schon verwaist, ihre Eltern waren von der Gestapo deportiert und in Konzentrationslagern ermordet worden. Am Morgen des 6. April 1944 war Julien Favet auf dem Feld. Zwei Lastwagen und zwei Limousinen, erzählt er, seien vor dem Kinderheim vorgefahren, und mindestens zehn mit Gewehren und Maschinenpistolen bewaffnete Deutsche seien aus den Wagen gesprungen. Als er dazukam, wurden die Kinder und ihre Betreuer bereits aus dem Haus geführt. Nur die Kleinen hätten geweint, die Größeren hätten sogar gesungen. Der einzige Deutsche in Zivil, mit Gabardinemantel und Hut, habe die Befehle gegeben. Das sei Klaus Barbie gewesen, er habe ihn später auf einem Foto wiedererkannt: „An seinem Blick, er hatte runde Augen, ganz weiß an den Seiten.“ Die Kinder seien auf die Lastwagen geschoben und abtransportiert worden. Er habe dann nichts weiter unternommen, sagt Julien Favet. Ob Klaus Barbie, der „Schlächter“ und Gestapo–Chef von Lyon, bei der Deportation der jüdischen Kinder und ihrer Betreuer tatsächlich persönlich anwesend war, ist bis heute nicht sicher. Er selbst be streitet das hartnäckig. Daß er den Einsatzbefehl gegeben hat, ist dokumentarisch belegt. Drei Menschen sind diesem Einsatz entkommen. Leon Reiffmann, ein damals 18jähriger Schulhelfer, war mit zwei Kindern bei der Ankunft der Deutschen aus einem rückwärtigen Fenster des Hauses gesprungen und hatte sich im Obst– und Gemüsegarten versteckt bis die Gestapo weg war. Geld und Wertgegenstände, so hatte Klaus Barbie nach dem Einsatz per Telegramm an seine Pariser Zentrale gemeldet, waren in dem Schulgebäude nicht gefunden worden. Über Drancy und Paris wurden Kinder und Lehrer nach Reval und Auschwitz geschafft. Mit Ausnahme einer Schulhelferin, Lea Feldmann, überlebte keines der Kinder und ihrer Lehrer die Gaskammern. Ein Lehrer und zwei Kinder wurden in Reval erschossen. Mittlerweile sind vor dem ehemaligen Kinderheim von Izieux die 40 Anwälte der Nebenklage im Prozeß gegen Barbie angekommen. Ihr Versuch, mit ein paar stillen Minuten der deportierten und ermordeten Kinder zu gedenken, geht in den hektischen Fragen der Reporter und dem Rasseln von Fotoapparaten unter. Eine australische Journalistin zupft die Stief mütterchen vor der Gedenktafel am Haus von Izieux für die Kamera weg, wort– und ratlos sieht die jetzige Besitzerin des Hauses Fremde auf ihrer Terrasse, im Garten hinter dem Haus und im Eingang zu ihrer Küche. Eine Stunde später ist alles wieder wie sonst auch an einem Sonntag in Izieux. In den bunten Wiesen zirpen die Grillen. Der 73jährige Bürgermeister steht noch vor dem Haus und erzählt von seinem alten Geschichtslehrer und wie der ihm schon bei der Machtübernahme Hitlers eine „interessante Zeit“ prophezeite. Unten neben der Rhone hat die Departementsverwaltung einen großen künstlichen See für die Surfsportler aus Lyon anlegen lassen. Izieux selbst ist kaum noch zur Hälfte wirklich bewohnt, meist haben Franzosen und Deutsche hier Ferienwohnsitze. Nur wenige von ihnen wissen, daß die Gestapo hier gewütet hat. Und nur wenige Kilometer Rhone–aufwärts ist das Leck des Schnellen Brüters, aus dem wochenlang flüssiges Natrium tropft bisher weder gefunden noch gestopft.

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