Journalist über China-Reise: "Diese Wohlanständigkeit nervt"
Für den Journalisten Christian Y. Schmidt war seine Reise durch China ein Experiment. Der ehemalige Maoist wollte wissen, wie viel Mythos sein Chinabild prägte.
taz: Herr Schmidt, wie kommt man auf die Idee, ganz allein und mit rudimentären Sprachkenntnissen eine Reise durch ganz China zu unternehmen?
Christian Y. Schmidt: Ich habe eine Art chinesisches National Geographic in einem Studentenhotel in Kunming, der Hauptstadt der südwestlichen chinesischen Provinz Yunnan, gefunden - und darin eine Reportage über die Nationalstraße 318, die China von Osten nach Westen in einer Länge von mehr als fünftausend Kilometern durchquert. Ich konnte den Text der Reportage natürlich nicht lesen, aber es gab darin eine ausführliche Karte und viele schöne Fotos. Ich erfuhr zum ersten Mal von der Existenz dieser Straße, die von der Küste bis zur nepalesischen Grenze geht. Außerdem führt diese Straße durch Tibet, und das war für mich eine ganz besondere Herausforderung, denn nach Tibet kam man auch vor einem Jahr schon nicht mehr ganz so einfach - besonders nicht auf dem Landweg.
Christian Y. Schmidt wurde Anfang der 70er-Jahre im Alter von 14, 15 Jahren im schönen Städtchen Bielefeld einer der jüngsten Maoisten Deutschlands. Später war er Redakteur bei der Titanic, schrieb ein viel diskutiertes Buch über Joschka Fischer und zog nach Berlin. Ende der 90er-Jahre lernte er seine chinesische Frau kennen, die ihn zuerst nach Singapur und dann nach Peking verschleppte. Dort lebt er noch heute und schrieb sein Buch "Allein unter 1,3 Milliarden - eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu" (Rowohlt Verlag Berlin, 288 Seiten, 19, 90 €)
Was ist Ihnen in Tibet aufgefallen?
Ich habe gestaunt, wie weit selbst Tibet entwickelt ist und dass ich keine der berühmten weißen Flecken auf der Landkarte entdecken konnte. Tibet ist zwar ärmer als andere Teile Chinas, aber lang nicht so arm wie etwa Nepal, wohin ich dann im Anschluss gefahren bin. Außerdem war auch die Landschaft gar nicht so karg und öde, wie ich das erwartet hatte. Eigentlich wollte ich ja nie nach Tibet. Ich fand Tibet auf Fotos immer relativ langweilig. Ich war dann überrascht, wie unterschiedlich die Landschaften sind und dass man teilweise denkt, man sei in den Alpen. Dann gibt es wieder viel Wald oder Dschungel und Canyons, und jedes Mal sieht es anders aus.
Wie verstehen sich aus Ihrer Sicht die Tibeter und die Chinesen?
Ich hatte einen tibetischen Fahrer, der immer mit mir chinesisch essen gehen wollte, weil das tibetische Essen nichts tauge. Andererseits ist er durch alle tibetischen Radarfallen einfach durchgewunken worden. Ich habe in Lhasa bei einem Deutschen mit einer tibetischen Ehefrau gewohnt - in einer Neubausiedlung, die komplett in tibetischer Hand war, und die von den Tibetern am liebsten an Chinesen untervermietet wurde, weil man die besser wieder rausschmeißen kann. Die ökonomische Benachteiligung der Tibeter liegt auf der Hand, muss aber differenzierter betrachtet werden. In Lhasa profitieren alle vom Tourismus, sämtliche Backpacker kommen in der tibetisch dominierten Altstadt unter. Außerdem halte ich das Gequatsche von der Überfremdung für großen Mist. In Tibet leben insgesamt zehn Prozent Chinesen, das entspricht dem Ausländeranteil in Deutschland. Man muss sich nur mal überlegen, wer in Deutschland von Überfremdung spricht …
Das klingt jetzt alles ziemlich idyllisch.
Immerhin hatte ich eines meiner schönsten Erlebnisse in Tibet. Ich bin mit meinem Guide, einem recht verpeilten Chinesen, den ich im Buch nicht umsonst nach Bart Simpson nenne, auf einen Berg gestiegen. Natürlich hat sich Bart wieder einmal verlaufen und plötzlich sind wir auf einer Wiese gelandet, die mit Blumen übersät war. So eine Wiese hätte man in den Alpen sicher nicht betreten dürfen. Es gab kleine Teiche, an denen tatsächlich Yaks standen, darüber einen Himmel, unglaublich nah, hell und blau. Das Lustigste war dann aber, und das steht nicht im Buch: Als wir den Berg wieder runtergestiegen sind, kam uns ein tibetischer Bauer entgegen und bat uns, Tickets zu kaufen, die fünf Euro das Stück gekostet haben, unglaublich teuer.
Was war denn das schrecklichste Erlebnis, das Sie auf ihrer Reise hatten?
Es sind viele schreckliche Sachen passiert, schrecklich war zum Beispiel meine Gefangennahme von einem sehr männlichen, aber dennoch weiblichen Colonel Kurtz in Fengjie. Ich wurde mitten in der Nacht auf einer Treppe am Yangtse entführt und in ein Kinderzimmer gesperrt. Das Zimmer hatte Gardinen, auf denen Teddys bei der Arbeit im Winter und Schneemänner abgedruckt waren, was die ganze Sache auch nicht kühler machte, denn die Klimaanlage war ausgefallen. Ich wollte entkommen, indem ich einen Preis für das Zimmer vorschlug, der mir selbst in dieser Gegend lächerlich hoch erschien, aber der Preis wurde widerstandslos akzeptiert.
Ebenso schrecklich war eine Reifenpanne auf 4.700 Meter Höhe. Ich zündete mir als Erstes eine Zigarette an - und dachte sofort, ich müsste sterben. Mir blieb die Luft weg und es wurde mir schwarz vor Augen. Das war schon der zweite Reifen, der an dem Jeep kaputtgegangen war. Der Fahrer fuhr auf einem Moped in die nächste Siedlung, von der keiner wusste, wie weit sie entfernt war. Ich dachte also, ich hätte diese Höhenkrankheit und müsste ganz schnell ins Krankenhaus oder wenigstens ein paar hundert Meter tiefer, aber dazu gab es keine Gelegenheit. Ich dachte also: Okay, jetzt wird hier mal schön gestorben.
Was ist denn nun aus Ihrem Vorhaben geworden, wie Sie es im Vorwort zu Ihrem Buch beschreiben, chinesischer zu werden - wenigstens ein bisschen?
Ich werde nie hundertprozentig Chinese werden können. Ich werde immer ein Ausländer in China sein. Ohne Deutsch und ohne Englisch zu sprechen und ohne diesen Teil der intellektuellen Auseinandersetzung, würde mir etwas fehlen.
Und wie steht es mit Ihren Chinesischkenntnissen, sind die besser geworden?
Ich habe ein bisschen mehr Chinesisch gelernt, aber ich glaube, ich habe es auch gleich wieder verlernt, als ich mich hinsetzen und das Buch aufschreiben und kein Chinesisch mehr sprechen musste. Aber es gab auf der Reise Pfingsterlebnisse, wo ich so genervt war von den Chinesen, dass ich angefangen habe, längere Reden auf Chinesisch zu schwingen. Über die habe ich mich schon gewundert, während ich sie schwang und heute kann ich mich gar nicht mehr erinnern.
Aber am Ende der Reise, da haben Sie sich aber doch ein bisschen chinesischer gefühlt?
Ich hatte eine Art Teilerfolg. Der zeigte sich, als ich in Nepal ankam. Ich konnte das Land plötzlich nicht mehr aus deutschen Augen sehen. Ich dachte wirklich: Herrgott, wieso funktionieren die Rolltreppen in der einzigen Shoppingmall nicht, warum sind die Schulen so offensichtlich alle Schrott, warum ist die Armut so viel größer als selbst in Tibet? Warum schafft ihr nicht dasselbe wie die Chinesen? Die können es doch auch? Ich glaube, so denken auch Chinesen, die nach Nepal kommen.
Lieben Sie die Chinesen?
Man kann kein riesiges Kollektiv wie die Chinesen lieben. Ich liebe natürlich meine Frau und die ist zufälligerweise Chinesin.
Mögen Sie die Chinesen wenigstens?
Das schon. Aber das bringt, wie gesagt, auch mit sich, dass sie mir sehr oft auf die Nerven gehen. Dieses gewisse Renommiergehabe, wenn die Leute permanent mit ihren dicken, fetten Autos fast Passanten umfahren, die hässliche Architektur, weil man in China glaubt, man müsste im 21. Jahrhundert so bauen wie in der europäischen Renaissance und das sei das Prächtigste, was man sich überhaupt vorstellen kann.
Dann geht mir diese gewisse Wohlanständigkeit auf die Nerven. Die Chinesen haben oft Angst davor, Regeln zu verletzen, und gehen danach, was die anderen sagen könnten. Da fragt man sich schon öfter: Will man dieses China eigentlich wirklich oder war das einfach wieder so eine spinnerte Idee, die man sich in den Kopf gesetzt hat?
Wollen Sie in China alt werden?
Große Frage. Im Moment möchte ich schon noch eine Weile in China leben - aber hier alt werden? Wahrscheinlich eher nicht. Gerade wenn man anfängt zu verblöden und zu vergreisen, wird man ja wieder auf das zurückgeworfen, was man in frühester Kindheit gelernt hat. Wenn man dann auch noch das bisschen Chinesisch anfängt zu vergessen, das man sich bis dahin noch aneignen konnte, und immer wieder verwirrt feststellt, dass man in einer ganz anderen Gegend ist als angenommen … Andererseits ist es dann vielleicht auch schon wieder egal. Aber ich glaube, ich würde im Alter doch lieber in Berlin rumlaufen und irgendwann in den Landwehrkanal fallen. Nach Rosa Luxemburgs Vorbild.
Oder nach dem Vorbild des großen chinesischen Dichters Li Bai im 8. Jahrhundert.
Ja, der ist angeblich volltrunken in den See gefallen, als er versucht hat, das Spiegelbild des Mondes im Wasser zu umarmen.
Stimmt das denn?
Man ist sich nicht sicher, ob er es nicht bewusst gemacht haben könnte. In China werden immer die Dichter am meisten verehrt, die am gefährlichsten und erbärmlichsten gelebt haben und gestorben sind. Dichter müssen unglücklich sein.
So wie Sie?
Ganz genau.
Haben Sie schon eine Idee, worüber Sie in ihrem nächsten Buch schreiben könnten?
Wenn ich noch mal ein Buch schreiben sollte über China, dann vielleicht über die Kulturrevolution. Durch die bin ich ja auch geprägt worden, als junger, dummer Maoist in den Siebzigerjahren. Damals wollte ich brennend gern nach China und Chinesisch lernen. Und in einer Volkskommune arbeiten.
Warum ausgerechnet ein Buch über die Kulturrevolution?
Die Kulturrevolution wird ja allgemein als großer Fehler betrachtet, auch in China selbst. Als historischer Rückschlag. Man glaubt hier, man wäre schon viel, viel weiter, wenn es die Kulturrevolution nicht gegeben hätte. Die Kulturrevolution war furchtbar, für viele bekanntermaßen tödlich, aber ich bin mir da trotzdem nicht ganz so sicher. Sie hat auch die Chinesen so geprägt, dass sie das werden konnten, was sie heute sind, zum Beispiel erst mal recht unbelastet von der konfuzianischen Tradition. Das Geschlechterverhältnis ist angenehmer als in Japan und in Korea.
War die Kulturrevolution in Ihren Augen auch eine Art Jugendbewegung?
Die Kulturrevolution nimmt in gewisser Weise die ganze Punkbewegung vorweg - dass eine Jugend die Gesellschaft übernimmt. Das war natürlich eine idiotische Idee. Aber irgendwie hat mich dieser Enthusiasmus natürlich auch beeindruckt.
"Hurra, hurra, die Schule brennt …?"
So in etwa, ja.
INTERVIEW: SUSANNE MESSMER
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