Journalist über AKP-Außenpolitik: "Die Türkei wird immer nahöstlicher"
Erdogans Rede macht einen Bruch in der türkischen Außenpolitik deutlich, der schon seit Jahren im Gange ist, meint "Milliyet"-Journalist Kadri Gürsel.
taz: Herr Gürsel, warum hat Erdogan so scharf auf Peres reagiert?
Kadri Gürsel: Man muss hier unterscheiden zwischen der Form und dem Inhalt seiner Rede. Der israelische Angriff auf Gaza hat hier große Entrüstung ausgelöst, und die Massenmedien haben Emotionen geschürt. Peres hat auf dem Podium seinen Zeigefinger auf Erdogan gerichtet, sodass dieser unbedingt widersprechen wollte. Dennoch: Dieser für einen Diplomaten skandalöse Stil Erdogans gefällt der Straße in der Türkei offenbar ausgezeichnet. Und der Inhalt der Rede macht einen Bruch in der türkischen Außenpolitik deutlich, der seit 2005 im Gange ist.
Was ist das für ein Bruch?
Der außenpolitische Berater des Ministerpräsidenten, Ahmet Davutoglu, ist dafür zuständig, die neue "multilaterale" Außenpolitik der Regierungspartei AKP zu entwerfen. Er neigt nicht dazu, der EU Priorität einzuräumen. Eine offensivere Nahostpolitik soll die Europapolitik der Türkei ergänzen; diese beiden Politiken sollen sich gegenseitig unterstützen, und die Türkei soll in der Region eine wichtigere Rolle übernehmen.
Das klingt ja erst einmal nicht schlecht.
Ja, wenn da nicht ein kleines Problem wäre! Die Türkei entfernt sich seit 2005 rapide von der EU-Achse. Die Regierung räumt der Annäherung an die EU weder in der Innen- noch in der Außenpolitik Priorität ein. Ganz im Gegenteil: Unter der AKP-Regierung wird das Land immer nahöstlicher statt europäischer. Man mischt sich überall ein, aber dabei neigt man dazu, sich stets an die Seite von Extremisten wie der Hamas zu stellen. Erdogan wirkt geradezu wie ein Fürsprecher der Hamas. Das mag seiner ideologischen Präferenz entsprechen. Aber Erdogan ist der Ministerpräsident der Türkei, eines Landes, das mit der EU um die Mitgliedschaft verhandelt und das Mitglied der Nato ist. Was in Davos geschah, wird jetzt in der Türkei von der Mehrheit als "berechtigte Reaktion" bejubelt, aber das ist nicht so. Peres hat doch nur seine Meinung verteidigt. Man muss damit nicht übereinstimmen, aber man darf auch nicht so reagieren wie Erdogan.
Ist in der Türkei nicht eine mentale Abkopplung vom Westen zu beobachten? Eine ganz subtile Westfeindlichkeit beim "kleinen Mann" auf der Straße, nach dem Motto "Die sind nicht wie wir und mögen uns doch sowieso nicht"?
Auf jeden Fall. Die Türkei führt ihre Beziehungen zur EU zwar weiter, aber es gibt eine geistige Abkopplung. Der Fall Gaza wurde missbraucht. Rassismus und Antisemitismus werden geschürt. Das Land nähert sich eher dem Nahen Osten, der geistigen Welt des Nahen Ostens. Die Entfernung von westlich-universellen Normen ist aber langfristig eine Gefahr für die Demokratie in der Türkei. Das führt zum religiösen Communitydenken und zu reaktionären Vorstellungen. Das Ziel, sich in die globale Weltgemeinschaft einzuordnen, gerät immer mehr in die Ferne. Und dieser Eindruck beginnt sich auch im Westen festzusetzen.
Kann die Türkei zur Führungsmacht der arabisch-islamischen Welt aufsteigen, wie dies manche erhoffen?
Nein, das wird ihr nicht gelingen. Diese populistische Politik verschafft der Türkei nur kurzfristig Prestige in den Augen der Massen auf den Straßen. Die Träume von einem osmanischen Revival haben keine Chance. Ein neoosmanisches Ziel hat in der Türkei meines Erachtens auch keine Mehrheit. Das hatte sich auch der Expräsident Turgut Özal einmal so vorgestellt. Er wünschte sich einen Paradigmenwechsel.
Hat ein solcher Paradigmenwechsel für die Türkei heute einen Sinn?
Nein. Unsere Zukunft liegt in der EU-Mitgliedschaft. Wenn die Türkei die Reformen wirklich eifrig weiterbetrieben hätte, wäre der Widerstand innerhalb der EU auch geringer. Die AKP ist mit einer Händlermentalität an die EU herangegangen: Ich gebe dir das, wenn du mir dies gibst. Das war keine Erfolgsstrategie. Und jetzt ist es für die Regierung zu spät, noch einmal Energien für einen Neustart zu sammeln.
Was passiert nun?
Die Bemühungen der AKP-Regierung, aus der Türkei ein nahöstliches Land zu machen, werden ihre Beziehungen zur EU weiter strapazieren. Hier wird eine Bruchstelle mit Spannung beladen. Wann und wie sie bricht, ob dabei die AKP verliert oder die Türkei, und welchen Preis man zahlt, das wissen wir nicht.
INTERVIEW: DILEK ZAPTCIOGLU
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Ministerpräsidentenwahl in Sachsen
Der Kemmerich-Effekt als Risiko
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt