Journalismuskritik : Medien als Groupies der Grünen?
Das Versagen des politischen Journalismus besteht in der Ignoranz gegenüber der Erderhitzung.
von PETER UNFRIED
Im Anfang war ein Tweet der ARD-Politikjournalistin Tina Hassel. »Frische #grüne Doppelspitze lässt Aufbruchsstimmung nicht nur in Frankreich spüren. Habeck und Baerbock werden wahrgenommen werden!«, tweetete Hassel nach der Wahl der neuen Grünen Bundesvorsitzenden im Januar 2018 live aus der Halle. Man muss sagen: Das war mal eine Prophezeiung, die sich eindeutig bewahrheitet hat. Nur dass Hassel in manchen Kreisen deshalb nicht als weitsichtige Politikanalystin gilt. Stattdessen wurde sie von Mit-Twitterern zur »Pressesprecherin« der Grünen erklärt und ihr Tweet kehrt regelmäßig zurück wie ein Zombie, wenn die Behauptung aufgestellt wird, »die Medien« seien unangemessen begeistert von den Grünen.
»Groupie-Journalismus« nannte selbst der gemeinhin unpolemische FDP-Bundestagsabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff einen Meinungsbeitrag auf Spiegel Online, der sich auf humorvolle Art mit einer kritischen Rezeption der neuen Mehrheitspartei auseinandersetzte.
Selbstverständlich muss man sich fragen, warum die Grünen im Jahr 2019 in den klassischen Medien auf eine Art berichtet werden, wie noch nie zuvor in ihrer Geschichte. Warum Robert Habeck und auch Annalena Baerbock zwischenzeitlich talkshow-omnipräsent schienen, warum außergewöhnlich viele Magazin- und Zeitungsporträts erscheinen, in denen die beiden in der Regel gut wegkommen. Und ob es bisweilen nicht auch in People- und Starberichterstattung mündete?
Berichterstattung bisher nur im Spartenprogramm
Rekapitulieren wir: Die Unterstellung lautet, die Grünen seien sowieso die Mehrheitspartei der Journalisten und jetzt drehten die völlig am Rad. Das ignoriert schon mal komplett, dass über die Grünen in der Gesamtheit der letzten fünfzehn Jahre nur im Spartenprogramm berichtet wurde. Was daran lag, dass die Gesellschaft keine positiven Erwartungen an die Grünen von Jürgen Trittin hatte. Über neunzig Prozent wollten, dass diese als Besserwisser wahrgenommenen Typen nicht regieren und unter den wenigen Grünen-Wählern war auch noch ein Teil, der sich in der Opposition sicher vor den Zumutungen der Realität fühlen wollte. Also wenig interessant für Medien, weil kaum Nachfrage bei den Kunden. Der Grünen-Zuständige einer Redaktion war zeitweise das ärmste Schwein. Jeden Montag zur Pressekonferenz von Herrn Özdemir und Frau Roth oder Frau Peter zu hotten, war nicht die hochangesehene Premiumstelle mit gut honorierten Anschlussaufträgen.
Jetzt aber ist durch die Veränderung der Gesamtlage alles anders, die früheren Orientierungsparteien bieten keine Orientierung, Zukunftspolitik wird ihnen nicht mehr zugetraut, schon gar nicht von Jungen, wie selbst die CDU-Politikerin Diana Kinnert, 25, einräumt. Der Notwendigkeit von Klimapolitik wird von einer wachsenden Zahl neuerdings Priorität eingeräumt. Aber das kommt nur noch hinzu. Die Grünen waren bereits auf dem Weg Richtung Mehrheitsgesellschaft, bevor FFF die Erderhitzung wirklich auf die Tagesordnung setzten.
Es liegt an den grundsätzlichen Veränderungen der (Arbeits-)Gesellschaft. An den sich in diesem Moment verändernden Diskurslinien, die eben nicht mehr vom milden Gegensatz linksliberal – liberalkonservativ geprägt sind, sondern von liberal vs. illiberal und von der Unmöglichkeit, weiter um ökonomische Verteilung und emanzipatorischen Fortschritt im fossilen Rahmen zu streiten.
Die Grünen stehen für gesamtgesellschaftliche Reformpolitik
Deshalb greifen die Diagnosen daneben, die von einem Zeitgeist reden, der jetzt angeblich von »Protestantismus, bis es kracht«, Verzichtswünschen und Verbotslust geprägt sei, wie das etwa der zeitanalytisch interessierte Fernsehmoderator Jörg Thadeusz behauptete. Weiter kann man kaum danebenliegen, wenn man ein bisschen wohlfeiles Gerede und ein paar Regionalurlaube der einen und die Freiheits-Untergangsbeschwörungen der Berufsliberalen als Realitätsveränderung versteht und das fossile business as usual von Politik, Wirtschaft und einem selbst komplett ignoriert.
Der entscheidende Punkt ist nicht, dass die Leute altgrün-moralischer werden, sondern dass die neuen Vorsitzenden der Grünen näher an sie rankommen und das, was sie umtreibt, als ihre Vorgänger. Vielleicht nicht in der Sächsischen Schweiz, aber im Westen und auch in den Metropolen des Ostens. Annalena Baerbock und Robert Habeck wirken im Vergleich mit der Konkurrenz zumindest wie Einäugige und greifen politisch und habituell weit in die Post-Lagergesellschaft aus, indem sie eben nicht mehr wie besserwissende Klischee-Grüne daherkommen, sondern diskursive Offenheit ausstrahlen. Das alles führt zu einem gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel. Da ist nichts mehr historisch vergleichbar, das gab es im Bund vorher nie und auch mit dem klassisch grün-roten Joschka Fischer nicht mal annähernd.
Ob zu Recht oder nicht: Die Grünen gelten als Partei, die eine gesamtgesellschaftliche Reformpolitik in den zukunftsentscheidenden Bereichen als notwendig erachtet und bereit ist, sie zumindest liefern zu wollen. Dass sie nicht mehr nur für Minderheitsfragen, sondern für das Ganze zur Verfügung stehen wollen und wie sie diesen Kulturwandel performen, hat Baerbock und Habeck in einer breiter werdenden Mitte der Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes populär gemacht – und deshalb rennen die populären Medien ihnen hinterher. Bild, Stern, ARD/ZDF, überall ist jetzt die Grünen-Berichterstattung intensiviert, weil man zu Recht denkt, dass das die Leute jetzt interessiert. Die Massenmedien machen auf dieser Ebene schlicht ihren Job.
Zukunftsvergessene Berlin-Mitte-Fiction
Okay, manche schicken People-Reporterinnen wie Jana Hensel und entsprechend fallen die Porträts aus, auch das ist im Rahmen des Üblichen. Im Übrigen: Schwülstige Porträts von männlichen Politikjournalisten über männliche SPD-Spitzenpolitiker gibt es zehntausendmal so viele. Und ein Teil der Friedrich-Merz-Berichterstattung (Friedrich, der Große) vor der Wahl der CDU-Vorsitzenden war auch mit leicht überzogenen Hoffnungen auf einen fundamentalen Politikwechsel durchwoben, das gehört halt dazu.
Wenn es ein Drama des Journalismus geben sollte, dann spielte es sich nicht in diesen Formaten ab und auch nicht in Fiction-Reportagen Marke Relotius. Es besteht in dem, was in den ganzen Merkel-Jahren weitgehend gefehlt hat. Meine These lautet:
Zu viele von uns im Journalismus haben bis heute die alles verändernde Erderhitzung nicht wirklich durchdrungen und auch Digitalisierung und Plattformkapitalismus nicht, wodurch eine wirklich zukunftsvergessene Berlin-Mitte-Fiction entstanden ist oder zumindest durchgewinkt wurde. Eine »Entleerung politischer Berichterstattung« hat der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen diagnostiziert.
Jenseits des Politikressorts
Der stellvertretende Chefredakteur Bernd Ulrich hat es in der Zeit so beschrieben: »Medien schaffen für die CDU und für die anderen Parteien eine Sonderwelt, die sie immer weiter von großen Teilen der Wirklichkeit und eben auch den meisten jungen Menschen (unter 60) entfernt.« In dieser Berlin-Mitte-Fictionserie geht es um das Rauf und Runter von einzelnen Figuren und die Beschreibung der üblichen menschlichen Konkurrenzen, was zweifellos Politik stark beeinflusst, aber eben keine Politik ist. »Personalisierungsexzesse« hat Medienwissenschaftler Pörksen ausgemacht.
Ansonsten wurde ab 2005 immer gern genommen und beruhigend-immergleich wie eine Bonanza-Folge: Das Trauma der SPD. Und: Was-denkt-sich-Merkel-wirklich? Ab 2015 dann: Das Trauma der Union. Zwischendrin immer wieder mal ein Leitartikel, dass ja mittlerweile »alles grün« sei, aber das bezog sich auf identitätspolitische Fortschritte und allenfalls Mülltrennungsgefasel.
Die politische Hinrichtung der Solarindustrie, der fortgeschrittene Niedergang der Windindustrie, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, der Jahrhundertpolitiker Hermann Scheer? Allenfalls was für die wenigen Eingeweihten in den Redaktionen jenseits vom Politikressort.
Der Journalismus hat darin versgt, die Bedrohung deutlich zu machen
Und dann kamen Greta Thunberg, Luisa Neubauer und Rezo, FridaysForFuture-Schülerinnen und Youtube-Twens. »Da die (meisten) Medien es versäumt haben, die Klimapolitik der Regierung so hart zu kritisieren, wie es angemessen gewesen wäre, sind in diese Lücke zuerst die Schüler gegangen und dann die Influencer«, schreibt Ulrich. Der journalistische Offenbarungseid der Gegenwart besteht darin, dass es Thunberg und Neubauer brauchte, dass wir männlichen Superchecker und auch die Journalistinnen keine Art der Berichterstattung gefunden haben, die Erderhitzung so nachhaltig zu berichten und zu analysieren, dass die Gesellschaft die Bedrohung wirklich ernst nimmt und die jeweilige Bundesregierung Klimapolitik machen muss – und zwar unabhängig davon, welche Parteien gerade koalieren.
So haben wir im business as usual jahrelang verpasst, dass Union und SPD den Klimavertrag von Paris ignoriert haben, also diejenigen, die das selbst unterzeichnet haben. Es sind ja eben nicht die 8,9-Prozent-Oppositions-Grünen für angeblich irre Klimapolitik verantwortlich, die die Scheuers und Kramp-Karrenbauers nun zum Wohl der Leute revidieren müssten: Das als doppeltes Versagen zu thematisieren, ist journalistisches Pflichtprogramm. Man muss und darf also keine liberalkonservative Medien- und Elitenverschwörung zum Wohle von Unternehmen konstruieren, das haben wir schön selbst mitverbockt. Die Klimakrise, sagt der Trierer Medienwissenschaftler Hans-Jürgen Bucher, habe »nicht in das Raster einer auf Zustimmung und Reichweite ausgerichteten Berichterstattung gepasst«. Das betrifft Qualitätsmedien genauso wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Vermutlich trifft das genauso auf den zweiten zukunftspolitischen Bereich zu, der von uns Medien genauso hartnäckig ignoriert wird oder national gesehen: Die EU. Eine Sonntagabendsendung Bericht aus Brüssel wäre das Mindeste, um öffentlich-rechtlicher Informationspflicht zu genügen. Stattdessen Sondersendungen wegen einer Gemeinderatswahl in einer norddeutschen Mittelstadt (Bremen) und Leitartikel über die monumentale Bedeutung des Ausgangs (weiter so wie bisher).
In beiden Bereichen ist die Wissenskluft zwischen den Experten und der Gesellschaft groß und das liegt auch daran, dass die Mainstreammedien sie nie geschlossen haben, um eine faktengestützte Diskussion in Gang zu bringen. Pulse of Europe haben es nicht geschafft, gegen die Mainstreammedien das Thema EU nachhaltig zu vertiefen.
Politik an der Realität vorbei
Nun könnte sich aber die Lücke bei der Erfassung des Klimaproblems etwas schließen. Dafür ist unser Eingeständnis wichtig, die Priorität dieses Problems lange nicht erfasst zu haben. Immerhin wird dank der Fridays-Kinder seit einigen Monaten breiter über die Notwendigkeit eines Preises für CO2 diskutiert. Das ist Insidern gerade erst einmal zwanzig Jahre bekannt.
Aber wie erklären sich die auseinandergedrifteten Welten von realen Problemen und deutscher Politik und ihrer sie begleitenden Medien?
Fast alles, was in der Mitte der Gesellschaft bis vor Kurzem gedacht und geschrieben wurde, beruht auf dem sozialdemokratischen Prinzip des 20. Jahrhunderts, also einer einigermaßen gerechten Verteilung des fossil erwirtschaften Wohlstands einer nationalstaatlich begrenzten Industriegesellschaft. Bei gleichzeitiger Erweiterung des emanzipatorischen Liberalismus, am besten organisiert durch christdemokratischen Pragmatismus, um etwaige ideologischen Ausraster wie ein vegetarisches Angebot in Kantinen auszuschließen. Letzteres war und ist teilweise das Niveau, auf dem über Erderhitzung und ihre Folgen geredet wird.
Festhalten an der untergegangenen Welt
Aus diesem Denken heraus erklärt sich auch die etwa eine Fantastilliarde Sigmar-Gabriel-Artikel, die im letzten Jahrzehnt erschienen sind, immer schön ausgewogen wechselnd zwischen »Gabriel kann es definitiv nicht« und »Gabriel kann es vielleicht doch«, die dann kurzfristig abgelöst wurden von »Martin-Super-Schulz«-Lyrik und dann »Martin-Totalversager-Schulz«-Abrechnungen. Dann kam Nahles dran. »Endlich eine Frau« und dann »aber auf keinen Fall diese Frau«. Nichnt zu vergessen Kevin Kühnert. Die unverdrossene Überproduktion an Rettet-die-SPD-Leitartikeln mit Personalisierungsfantasien und ohne Bezug auf Erderhitzung, Digitalisierung, China oder EU erklärt sich auch daraus, dass eine marginalisierte SPD mit marginalisierten SPD-Experten einhergeht. Aber vor allem dadurch, dass an der untergegangenen Welt festgehalten werden soll, in der Union, SPD und Berlin-Mitte-Journalisten Themen, Relevanzen und Repräsentationen untereinander ausmachen. Erderhitzung gehörte definitiv nicht dazu. Junge Menschen unter 25 und ihre Zukunftschancen auch nicht.
Auch die komplexen und sich längst vollziehenden Folgen des Wandels von der analog-industriellen zur digitalen Gesellschaft und die künstliche Intelligenz sind weitgehend unter dem Radar von Berlin-Mitte, werden aus dem Politikressort ausgelagert und an externe Experten (Lobo, Kurz, Morozov) delegiert. Politikern, Politikjournalisten und Gesellschaft fehlt damit die notwendige »Allgemeinbildung«, das „Zusammenhangswissen, dass aus der ›Blackbox‹ der Digitalisierung und KI einen Zusammenhang fürs eigene Handeln machen würde«, sagt der Publizist Wolf Lotter.
Zeit-Journalist Bernd Ulrich hat in seinem Grundsatzessay Wie radikal ist realistisch? schön beschrieben, wie der »mittezentrierte Journalismus« den Korridor schützt, den Regierungspolitik zu bearbeiten wünscht. »Statt die Mitte aus ihrem resignativen Gradualismus zu vertreiben«, schrieb er, bewährten sich die etablierten Medien als »seine Wächter.«
Realismus gilt als seltsam
Das ist keine Verschwörung, es ist eine unausgesprochene Übereinkunft. Sie funktioniert so, dass man ein bisschen anders sein darf, aber nur innerhalb des Kanons. Originell sein, zum Beispiel, ist ein positives Alleinstellungsmerkmal.
In diesem Mitte-Journalismus galt: Je mehr sozialökologische Kompetenz, desto weniger wichtig wurde man. Die Mitte hatte es nicht mit Erderhitzung. Das gilt für Parteien, einschließlich der Grünen. Und für etablierte Medien. Wandte sich jemand trotzdem dem drängendsten Politikfeld zu, hieß es, er sei ein wenig »seltsam« geworden. (Ich weiß, wovon ich spreche.) »Seltsam«, das ist das Erschreckende, ist in der bundesrepublikanischen Mitte ein anderes Wort für realistisch. Gewesen oder ist es immer noch? Das wird sich jetzt weisen.
Ein weiterer grundlegender Irrtum besteht darin, dass die digitalisierte Mediengesellschaft sich noch an Leitartikeln, Titelstories oder gar konzertierten Aktionen von Printmedien orientieren würde. Ja, das waren noch Zeiten, als die Jungsgangs von Spiegel und Stern gegen Springer Willy Brandt als Kanzler durchsetzten, und linksliberale Chefjournalisten 1998 nochmal für Schröder trommelten. In Wahrheit schwenkte der damalige Bild-Chef Udo Röbel um, weil Kohl gar nicht mehr ging – und beförderte die neue Mehrheit.
Instagram ist die zentrale Plattform zur Berichterstattung der Jungen
Das ist passé. Diese Zeit des Berlin-Mitte-only-Framings ist genauso over wie der Halblinks-halbrechts-Dualismus, Linksliberalismus-Prantl-Predigten und die Bild-Zeitung. Aber erst mit FFF und dem Youtuber Rezo (Die Zerstörung der CDU) wurde das in diesem Jahr so richtig klar.
Hinzu kommt: Die Sphäre der Politik ist nur eine von mehreren Arenen. Und die Jungen agieren sowieso in einem anderen Kommunikations- und auch Denksystem. Die tragen nicht die Nachkriegsgeschichte und das ganze 68er-Zeug mit sich rum wie unsereins, die zitieren auch nicht den Club of Rome und die wissen vermutlich nicht mal, was der Stern ist. Geschweige denn war. »Das Tragische ist, dass sich diese neuen Realitäten, siehe FFF, am klassischen Journalismus vorbeientwickeln. Die jungen Menschen brauchen keine Zeitungen mehr«, sagt Felix Dachsel, Chefredakteur von Vice, einem Medium für junge Menschen. »Teile unserer Umweltberichterstattung finden ausschließlich auf Instagram statt.« Auch für die Fridays-Bewegung ist Instagram die zentrale Plattform zur Berichterstattung (über sich selbst). Greta Thunberg hat da über zwei Millionen Follower.
Die Partikularisierung der Öffentlichkeit ist vorangeschritten, entsprechend schwinden Parteien und auch Medien, die früher Themen und Positionen setzten und bündelten. Orte der Verständigung werden ersetzt durch Orte der Spaltung, etwa Plattformen von Silicon-Valley-Giganten, die sehr euphemistisch »soziale Netzwerke« genannt werden. Der Aufstieg der neuen politischen Kräfte vollzieht sich hier: Fünf Sterne, Pegida, AfD, Trump. Die täglichen seitenweisen Gegendarstellungen von Trumps Äußerungen und Wahrheiten in der New York Times unter der Kustode »The 45th President« bestätigen beide Seiten in ihren Überzeugungen, wenn sie die Trump-Unterstützer denn überhaupt erreichen. Dazu braucht es einen Tweet von Trump, der darauf Bezug nimmt.
Stinknormale Leute wollen eine Regierung, die Klimapolitik macht
Eine unbeantwortete Frage ist, warum angesichts eines lagerübergreifenden Versagens nun vor allem liberalkonservative Medien, Ressorts oder Cheerleader die Grünenfan-Vorwürfe erheben und mit ihnen FDP- und Unionspolitiker. Warum sie so fixiert sind auf Schulpflicht, auf Schnitzel, auf andere Medien, die angeblich die Grünen ins Kanzleramt schreiben wollten, darauf ideologische Verirrung und Freiheitsberaubung von Durchgeknallten zu wittern, wo eigentlich nur stinknormale Leute eine Regierung wollen, die Klimapolitik macht und in der Lage ist, die Verträge von Paris einzuhalten. So wie sich das gehört. Dieses politische Interesse auf die attraktive Oberfläche von Habeck zu verkürzen, wie etwa die Welt (»Hübscher ist nur Konstantin von Notz«), ist zu oberflächlich analysiert.
Eine weitere Frage ist, ob die Nörgel- und Hadertruppe eigentlich nicht mitkriegt, dass Gesellschaft, wichtige Wirtschaftsplayer und europäische Staatschefs sich mental schon längst auf eine sehr nahe Zukunft eingestellt haben. Das ist die Zeit, in der die Grünen regieren.
Aber die Grüne Regierungsbeteiligung im EU-Mitgliedsland Deutschland ist nicht nicht entscheidend, wenn sie nicht Ausdruck einer grundsätzlichen Verschiebung ist. Klimapolitik muss der Kern von europäischer Zukunftspolitik sein und das muss sich in einer überarbeiteten gesellschaftlichen Kultur, einer neuen Schwerpunktsetzung und Kommentierung der Mainstreammedien, einem postideologisch-klischeefreien politischen Streit und selbstverständlich in der Programmatik der Union ausdrücken.
Es ist wirklich beschämend, dass es die Freitagskinder brauchte, damit das alles klar werden konnte. Aber nun ist es so und wir können das Beste draus machen.
Mitarbeit: MARTIN UNFRIED