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■ Johannes Rau ist schon seit hundert Jahren BundespräsidentDie Leonid Breschnews des Westens

Für Johannes Rau ist am Sonntag der Traum seines Lebens in Erfüllung gegangen. Man gönnt es ihm. So, wie man seinem Opa zum 70. Geburtstag die letzte große Reise in die Karibik gönnt.

Bei Rau hat man den Eindruck, er ist schon seit hundert Jahren Bundespräsident. Er hat alle Reden bereits gehalten, die jetzt noch kommen werden. Er hat seine Ämter schon immer so ausgeübt, wie er es jetzt tun wird.Versöhnenstattspalten, versöhnenstattspalten, versöhnenstattspalten. 1969 als Oberbürgermeister in Wuppertal, 1978 als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, 1987 als Kanzlerkandidat der SPD, 1998 als Rentner. Heute ist Johannes Rau 68 Jahre alt, und der ewige Präsident versöhnt jetzt auch offiziell in dieser Funktion.Was für ein Aufbruch!

Johannes Rau ist eine Figur aus einer anderen Zeit. Um das zu illustrieren, muß man nur daran erinnern, wie eiskalt Gerhard Schröder im Bundestagswahlkampf 1998 den damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen abserviert hat. Raus Rücktritt und die Inthronisierung von Wolfgang Clement als sein Nachfolger wurden als Zeichen einer neuen Zeit gewertet. Weil Kohl noch nicht geht, geht Rau, hieß es, und überall wurde vom parallelen Abgang der beiden alten Patriarchen geredet. Mit ihrer politischen Karriere, so war klar, endet auch die alte Bundesrepublik. Jetzt kommt der alte Johannes Rau zurück und führt die neue Bundesrepublik als Präsident ins nächste Jahrtausend. Warum nicht gleich Helmut Kohl wieder als Kanzler?

Rau gehört einer Generation an, die schon Abschied genommen hat. Ihn verbinden mit der Kriegs- und Nachkriegszeit noch eigene Erinnerungen. Das hat den heutigen Bundespräsidenten, wie alle anderen Präsidenten vor ihm, geprägt. Sie haben vor allem die demokratischen Errungenschaften der Bundesrepublik verteidigt, den Menschen Sicherheit versprochen und immer wieder gemahnt, die Erinnerung an die deutsche Geschichte wachzuhalten. Das ist immerhin ein Beweis dafür, daß es auch ein Leben vor Gerhard Schröder gab, und diejenigen, die etwas gegen das forsche Normalitätsgehabe des Bundeskanzlers haben, werden den Bundespräsidenten Johannes Rau als ein Zeichen der Beruhigung werten. Aber das ist heute zu wenig. Unsere Bundespräsidenten sollen uns nicht mehr beruhigen.

Für die Reformen, die dieses Landes nötig hat – Arbeit, Soziales, Bildung, Einwanderungspolitik –, brauchen wir einen Bundespräsidenten, der uns nicht nur zusammenführt, sondern uns ermuntert, mehr noch, der uns herausfordert. Vieles kommt ja nicht nur deswegen nicht voran, weil die Politik zu zögerlich ist, sondern weil auch wir selbst, die Bürger, gern an dem festhalten, was uns lieb und teuer ist. Johannes Rau ist für diese Aufgabe nicht geschaffen. Sie widerspricht seinem Naturell. Er ist der Sohn eines Predigers, ein Mann des sanften Wortes. Er will sich nicht einmischen, sondern die Menschen ins Gespräch bringen: Alte und Junge, Ostdeutsche und Westdeutsche, Christen und Muslime, Ausländer und Deutsche. In der ersten Ansprache nach seiner Wahl hat Rau bereits gesagt, was er damit meint.

Das hört sich im ersten Moment gut an, aber in dem Geschichtenerzählen selbst liegt schon das Problem: Es ist von vornherein auf das Versöhnen angelegt. Rau will unsere Herzen anrühren, er will uns und die Politik nicht durch große Worte überfordern. Das ist zunächst einsichtig; wer verändern will, braucht Vertrauen. Aber Raus Harmoniesucht ist von einer Art, die entpolitisierend wirkt. Er will nicht streiten – aber damit unterfordert er uns.

Über 40 Jahre in politischen Spitzenämtern, fast 20 Jahre Ministerpräsident, 17 Jahre stellvertretender SPD-Chef – Rau wäre nach seinem Rücktritt im vorigen Jahr besser Rentner geblieben. So müßte er sich nicht fragen lassen, ob er zu alt sei, und die Tatsache, daß er sich vielleicht seine Bauchschlagader erweitern lassen muß, würde keinen interessieren. So aber vertraute er eine Woche vor seiner Wahl der Bild-Zeitung an: „Die Internisten raten abzuwarten, die Chirurgen wollen eher operieren. Doch einen Operationstermin gibt es nicht – ich kenne jedenfalls keinen.“ Johannes Rau ist, um es mit den Worten der Ostdeutschen zu sagen, auf die er zugehen will, ein Mann der Stagnation. Auch der Westen hat seine Leonid Breschnews. Jens König

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