Joachim Schulz : Buch und Bier, das lob ich mir
Raimund hatte seine zerlesene Ausgabe der „Ästhetik des Widerstands“ mitgebracht. „Heute“, sagte er verschmitzt, als er sich an die Thjeke des Café Gum setzte, „ist Tag des Buches.“ Theo verdrehte die Augen. „Und im Asialaden in der Hölderlinstraße ist ein Sack Reis umgefallen“, brummte er. Anscheinend hatte ihm irgendwas die Petersilie verhagelt – wahrscheinlich hatte er beim Zeitunglesen eine Überdosis Trump, Musk oder Weidel abgekriegt.
Raimund ließ sich nicht beirren. „Und Tag des Bieres!“, fuhr er fort. „Echt?“, sagte Luis. „Beides am selben Tag? Ist ja irre!“ Sie bestellten fröhlich eine Runde, und Raimund rief: „Buch und Bier, das lob ich mir!“
Theo kochte vor Wut, und Luis schob provozierend hinterher: „Tag des Weines, Tag des Schweines, Tag des nicht ganz reinen Reimes.“ Natürlich explodierte Theo umgehend. „Habt ihr sie denn noch alle?“, fauchte er: „Halb Europa wird von Nazis regiert, der Klimakollaps steht vor der Tür, überall Hunger und Elend und Krieg, und ihr verplempert eure Zeit mit solchem Bullshit. Was seid ihr für erbärmliche Wichte, ihr …“
Wir gingen hinter der Theke in Deckung und warteten, bis sein Zorn verraucht war. „Vielleicht gibt es ja immerhin einen Tag der Apokalypse“, sagte Luis beschwichtigend, als Theo nur noch knurrend dasaß und sein Bier hinunterstürzte. „Oder einen Tag des Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“
Theo fixierte ihn böse. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“ – „Nicht doch, Mann“, sagte Luis, doch Theo schien überhaupt nicht überzeugt.
„Gibt’s beides nicht“, sagte Raimund. „Kein Tag der Apokalypse. Kein Tag der Befreiung des Menschen und so weiter.“ Er scrollte auf seinem Smartphone durch eine Liste, die er sich aus dem Internet runtergeladen hatte. „High-Five-Tag, Tag der verlorenen Socke, Tag des Zweinutzungshuhns …“ – „Tag des Zweinutzungshuhns?“, unterbrach ihn Luis. – „Ja, 22. Januar.“ – „Was für einen Nutzen kann ein Huhn denn haben, außer dass es Eier legt?“ – „Keine Ahnung“, sagte Raimund, „vielleicht gibt es Menschen, die mit Hühnern reden. Oder spazieren gehen. Kuscheln womöglich. Oder es gibt Hühner, die Mau-Mau spielen können. Was wissen wir schon von Hühnern?“
Wir hörten es aus Theos Richtung brummen und grollen. Es war klar, dass er im nächsten Moment wieder ausbrechen würde wie ein Vulkan, doch da sagte Raimund: „Aber es gibt einen Tag des Ungehorsams.“ – Theo stutzte. „Was?“ – „Ja“, sagte Raimund. „Und er ist an deinem Geburtstag.“ – „Echt? Ich hab am Tag des Ungehorsams Geburtstag?“ – „Yep“, nickte Raimund. „Was ja nun besser als jedes Horoskop erklärt, warum du dich nirgendwo unterordnen kannst und Autoritäten geradezu zwanghaft einen Vogel zeigst.“
Und so wurde es doch noch ein langer und schöner Abend, an dem uns Theo später sogar noch seine Lieblingsstellen aus der „Ästhetik des Widerstands“ vorlas.
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