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■ Jiři Dienstbier über das deutsch-tschechische Verhältnis„Eine Entschuldigung wäre hilfreich“

Jiři Dienstbier, zu kommunistischen Zeiten Dissident der Charta 77, war bis Juni 1992 Außenminister der Tschechoslowakei. Bei den damaligen Parlamentswahlen scheiterte seine Partei, die liberaldemokratische Bürgerbewegung „OH“, an der Fünfprozenthürde.

taz: Herr Dienstbier, vor etwas mehr als zwei Jahren wurde der von Ihnen und dem früheren Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher ausgehandelte deutsch- tschechoslowakische Nachbarschaftsvertrag unterzeichnet. Seitdem haben sich die deutsch-tschechischen Beziehungen aber eher verschlechtert als verbessert.

Jiři Dienstbier: Der Vertrag ist auf die gegenwärtige und zukünftige Zusammenarbeit gerichtet. Er schreibt fest, daß die Folgen von Krieg und Vertreibung nicht durch neues Unrecht behoben werden dürfen. Wir haben einen klaren Strich unter die Vergangenheit gezogen und festgehalten, daß die gegenwärtige Generation nicht dafür verantwortlich gemacht werden darf, was ihre Väter und Großväter getan haben.

Aber es ist ja gerade nicht gelungen, diesen Schlußstrich zu ziehen. Selbst in tschechischen Zeitungen der politischen Mitte wird heute vor einer Revision der Ergebnisse des 2. Weltkriegs gewarnt.

Natürlich gibt es in beiden Ländern Extremisten, die die Vergangeheit in ihrem Interesse mißbrauchen wollen. Diese Leute spielen mit den Gefühlen der Menschen, die Krieg und Vertreibung erlebt haben. Verantwortung für die Verschlechterung der Beziehungen tragen aber auch die Regierungen in Bonn und Prag. Da die tschechische Regierung kein klares Konzept für ihre Deutschlandpolitik hat und nur auf die Stimmung der öffentlichen Meinung in Deutschland und Tschechien reagiert, wird ihr bei uns Nachgiebigkeit gegenüber den sudetendeutschen Forderungen vorgeworfen. Was die deutsche Seite betrifft, wurde nach der Unterzeichnung des Vertrags zu viel Gewicht auf die zwei bis drei Prozent Stimmen der äußersten Rechten gelegt.

Worüber sollten die beiden Regierungen denn verhandeln?

Über die Zusammenarbeit beider Staaten auf den verschiedensten Ebenen, über unsere Eingliederung in die europäischen Strukturen. Über unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, über das, was in der Vergangenheit war und sich in der Zukunft nie mehr wiederholen darf, müssen wir einen Dialog führen. Aber keine Diskussion und schon gar keine Verhandlungen darf es über eine Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs geben. Die jetzige Diskussion über die Aufhebung der Beneš-Dekrete (in denen der damalige Staatspräsident Edvard Beneš die „Aussiedlung“ und die Enteignung der Sudetendeutschen anordnete, d.Red.) ist absurd. Die Geschichte kann man nicht ändern. Die Historiker können feststellen: „Dies und jenes war ungerecht an den Beneš-Dekreten.“ Aber Änderungen: nein.

Wir müssen über unser eigenes Fehlverhalten und nicht über das der ehemaligen Gegner diskutieren. Die Tschechen sollen über die Vertreibung reden und die Deutschen über die Verbrechen im Protektorat. Wenn wir das Unrecht immer gegeneinander aufrechnen, kommen wir nicht weiter. Wenn die Sudetendeutschen immer wieder die Frage der Rückgabe ihres Besitzes auf den Tisch bringen, dann können wir ihnen Schränke voller Unterlagen zeigen, welche ökonomischen Schäden uns das Protektorat und der Zweite Weltkrieg brachten. Und wenn wir das ausrechnen, wird es die Verluste der Deutschen bei weitem übertreffen. Aber warum sollten wir das überhaupt ausrechnen, und zu welchen Preisen? Das alles passierte vor fünfzig Jahren. Es geht um eine moralische, nicht um eine finanzielle Diskussion.

Das heißt aber, daß auch die Frage der Entschädigung für die tschechischen Nazi-Opfer offenbleibt, denn bisher wurde dies in den Verhandlungen häufig miteinander verbunden.

Tatsächlich haben beide Dinge nichts miteinander zu tun. Ich habe nie verstanden, warum die Bundesrepublik die Nazi-Opfer anderer Staaten entschädigt hat und nur die Tschechen nicht. Das hat mir bis heute kein deutscher Politiker erklären können. Schließlich war die Lage Polens mit der unseren zwar nicht identisch, aber doch zu vergleichen. Das ist eine Frage des deutschen Gewissens und nicht der Verhandlungen.

Eine wichtige Rolle bei den Diskussionen spielt die sudetendeutsche Forderung nach Anerkennung ihres „Heimatrechts“. Ist diese Frage nicht längst gelöst?

Von unserer Seite gibt es hier keine Probleme. Jeder Deutsche, der dies möchte, kann tschechischer Staatsbürger werden. Allerdings müßte er dann die deutsche Staatsbürgerschaft aufgeben. Endgültig gelöst wird dieses Problem mit dem Beitritt der Tschechischen Republik in die Europäische Union. Dann kann jeder Deutsche sich in Tschechien niederlassen und auch ein Haus kaufen. Aber es geht hier auch um ein psychologisches Problem. Selbst Tschechen, die die Vertreibung aus moralischen Gründen ablehnen, sagen: Wie können sich die Deutschen beklagen, daß sie vertrieben wurden? Schließlich konnten sie fast fünfzig Jahre im freien Westen leben, während bei uns die eine Diktatur von der anderen abgelöst wurde. Fünfzig Jahre lang wollten die Sudetendeutschen nicht zurückkehren, und jetzt, wo es uns etwas besser geht, wollen sie unsere Häuser kaufen.

Präsident Havel hat schon wenige Monate nach der „samtenen Revolution“ sein Bedauern über die Vertreibung zum Ausdruck gebracht. Dieser Schritt wurde damals im Ausland gewürdigt, in Tschechien gab es von Anfang an Kritik. Kam die Entschuldigung Havels zu früh?

Ein moralischer Standpunkt gilt immer, der kann nicht zu früh oder zu spät kommen. Viele Tschechen betrachten das Ganze aber eher politisch und vertreten die Ansicht, eine Entschuldigung sollte den Abschluß eines Verhandlungsprozesses bilden. Und unter diesem Blickwinkel haben sie recht. Doch wenn wir eine demokratische Gesellschaft schaffen wollen, muß die Wahrheit auf den Tisch – ohne Rücksicht auf irgendwelche politischen Verhandlungen. Aber natürlich haben wir damals damit gerechnet, daß die andere Seite auf unsere Geste mit einem ähnlichen Schritt reagiert.

Erwarten Sie von Bundespräsident Herzog, der sich bei den Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Warschauer Aufstands bei den Polen entschuldigt hat, eine ähnliche Geste gegenüber Tschechien – etwa zum 50. Jahrestag des Kriegsendes im kommenden Mai?

Ich fordere von Roman Herzog nichts. Die Frage ist, ob er ein solches Bedürfnis hat oder nicht. Natürlich würde eine Entschuldigung die Atmosphäre verbessern und die altneuen Nationalisten beider Seiten in ihre Schranken weisen. Interview: Sabine Herre

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