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■ Kunsthalle: 37 Rühm-Zeichnungen suchen nach dem Augenblick
„Suchen“ und „Berühren“ sind die Ausgangspunkte der zeichnerischen, visuellen und skripturalen Annäherungen des Komponisten, Poeten und künstlerischen Graphologen Gerhard Rühm. Der 1930 geborene Grenzüberschreiter ist einer der Gründer der Wiener Gruppe und an der HfBK Hamburg Professor für freie Grafik und künstlerische Grenzbereiche.
Die Hamburger Kunsthalle präsentiert jetzt eine Ausstellung von 37 sorgfältig ausgewählten Zeichnungen vom Anfang der 60er Jahre bis zur Gegenwart. Gerhard Rühms Werke folgen einer inneren Logik von Wort und Raum-Annäherungen, in der die Worte das Material bilden, um sich auf eine auditive Suche nach Koinzidenzen und Differenzen von Wort und Bild zu begeben. Die Möglichkeiten des gesprochenen Textes bilden den Übergang zur musikalischen Sprache, die wiederum von der Notation und Handschrift in die gebundene und freie Zeichnung übersetzt wird. Dennoch sollte der poetische Ausgangspunkt bedacht werden: „Das Wort muß gelesen werden“, lautet eines der wunderbar klar gesetzten und gesprochenen Worte des Künstlers.
Die parallel laufenden Wirklichkeitsaneignungen kulminieren in der literarisch-künstlerischen Suche nach Chiffren, die den unwiederbringbaren Augenblick als differenzierten Gefühls-Zusammenklang in die Konkretion überführen. „Jetzt“ lautet einer der zentralen Begriffe, den Gerhard Rühm als chiffrierte Losung zenbuddhistischer Anschauung verstanden wissen möchte: „Da ist eben alles schon drin, das bewußt den gegenwärtigen Augenblick erlebt und sinnlich lebt. Kunst ist für mich Versinnlichung. Es herrscht ja eine große Sprachverwirrung auf dem Gebiet Abstraktion und Konkretion. Das Abstrakte ist das Sinnliche, und das Sinnliche an Sprache ist das, was man hört, der Klang und der Laut.“
Die Suche nach einer inneren Logik zwischen Klang, Ton, Musik und Kunst rückt ihn in die Nähe Kandinskys. Die Handschrift als immer noch erkennbares Zeichen – nervös oder selbstbewußt und vehement gesetzte Buchstaben, der Fluß von Bleistift oder Kugelschreiber – zeigt eine Nähe zum Werk von Cy Twombly. Alle drei, Kandinsky, Twombly und Rühm, bewegen sich auf einem hauchdünnen Seil, das sie zwischen dem undefinierbaren Feld Kunst und einem inneren Glaubensbekenntnis zur übersetzbaren Eindeutigkeit von Sprache, Musik, Chiffre und sinnlicher Visualisierung gespannt haben. Gunnar F. Gerlach
Kunsthalle, bis 2. April
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