Regierungserklärung im Berliner Reichstag: Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt
■ Die erste Bundestagssitzung des gesamtdeutschen Parlaments im Berliner Reichstag war geprägt von Nüchternheit. Kohl forderte das Volk auf, die Ärmel hochzukrempeln, um Deutschland nun auch wirtschaftlich, sozial und kulturell zu vereinen
Kaum war Helmut Kohl vom Rednerpult gestiegen, machte in den Gängen des ehemaligen Reichstages ein erster Witz die Runde: „Warum haben die Abgeordneten von CDU/CSU/DSU zwar kraftlos aber oft geklatscht? Um den Kanzler aufzuwecken.“ Erste Sitzung des erweiterten Bundestages, am zweiten Tag nach der Wiedervereinigung von DDR und BRD und das noch in Berlin: Ein Ereignis, angetan, Helmut Kohl aller Nationalismen zu entlocken, deren er fähig ist.
Er ließ sie sich aber nicht entlocken. Statt hemmungslos deutsche Geschichte zu klittern, lauthals deutsche Gegenwart zu verherrlichen und deutsch-deutsche Zukunft zu verdrängen, hielt der Kanzler müde und lustlos — ein Referat. Seine These: Nun ist's des Feierns genug; wer mir bisher geglaubt hat, die Einheit gebe nur, nehme aber nicht, muß sich umstellen.
„Was in vier Jahrzehnten zerstört wurde...“
„Große Aufgaben liegen vor uns, die alle Kraft beanspruchen werden“, „wir stehen erst am Anfang der Einheit“, „wir müssen uns den neuen Herausforderungen stellen“ und „große Anstrengungen und Opfer erbringen“, „die Erwartungen [der ehemaligen DDR-ler] gehen manchmal darüber hinaus, was zu leisten ist“, „was in vier Jahrzehnten zerstört wurde, kann nicht in Wochen und Monaten wieder aufgerichtet werden“, „es wird für viele eine schwierige Phase“. Solche Ermahnungen zogen sich durch nahezu alle Abschnitte der Kohlschen Regierungserklärung.
Eher pflichtschuldig sprach Kohl von wirtschaftlichen Vorzügen der Wiedervereingung. Nur einmal und ganz kurz erwähnte er die „immateriellen Vorteile“, die die Einheit mit sich bringe.
Eigenlob und Lob von Willy Brandt
Buchhalterisch lobte er seine Regierungpolitik, ganz allgemein sprach er von zukünftigen Vorhaben. „Nichts, aber auch gar nichts Konkretes hat der Kanzler damit den Menschen in den östlichen Bundesländern an die Hand gegeben“, so kommentierte es hinterher der ehemalige Volkskammerabgeortnete Konrad Weiß.
Gegen die SPD zog der Kanzler kaum zu Felde. Und das war auch nicht nötig: Willy Brandt, erster Redner der SozilademokratInnen verneigte sich mit seiner Rede tief vor Helmut Kohl. „Wer wollte Ihnen den Erfolg mißgönnen“, rief Brandt dem wohlig nickenden Kohl etwa zu. Er machte ihm Mut „ich setze darauf, daß wir's schaffen werden“ und sprach immer wieder von der „gemeinsamen Verantwortung“. Opposition und Regierung — diesen Gegensatz schien Brandt ganz aufheben zu wollen: „Wir sind alle eher Staffettenläufer als Einzelkämpfer.“
Soviel Anbiederung tat den Regierungsfraktionen sichtlich wohl und stimmte sie milde — so milde, daß sie wenig später den angriffslustigen Oskar Lafontaine eher belachten, anstatt ihn wie sonst wütend zu beschimpfen.
Der SPD-Kanzlerkandidat warnte vor der deutschen Tradition des Unpolitischen und Apolitischen und der Gefahr eines wiedererstarkenden Nationalismus. Wie immer, sagte er vorraus, daß die Einheit teuer wird und griff die Bonner Regierung heftig dafür an, wie sie mit dieser Perspektive umgeht: „Was wir jetzt erleben ist ein Lotteriespiel, das hat mit solider Finanzpolitik nichts zu tun.“
Große Koalition der Kommunistenfeinde
Wie die erweiterten Bonner Parteien demnächst mit der neuen Opposition von PDS und Bürgerbewegung umgehen werden — davon gab die gestrige Debatte einen kurzen aber deutlichen Eindruck: Als Wolfgang Ullmann, Abgeorneter der Bürgerbewegung Bündnis 90 leise und klug von den künftigen verfassungsmäßigen Grundlagen der neuen Republik sprach, war der Plenarsaal fast leer. Gregor Gysi, PDS, hörten zwar fast alle aufmerksam zu. Auch selbstkritische und nachdenkliche Sätze quittierte die Mehrheit der ParlamentarierInnen jedoch mit Häme oder Haß — oder dem scheinbar unbezwingbaren Drang nach demonstrativer Abgrenzung: Zwei Abgeordnete der Grünen mochten selbst in dieser feindseligen Stimmung nicht darauf verzichten, Gregor Gysi mit kritischen Zwischenfragen zu unterbrechen. Redner der Union hatten sie kurz zuvor ungeschoren gelassen. Ferdos Forudastan
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