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Jetzt wedelt der Hund wieder mit dem Schwanz

■ betr.: „Ein epochaler Wandel“, taz vom 18.12.93

Der bundesdeutsche Erfolgsweg hat uns dahin geführt, wo wir heute sind, sagen die Grundsatzreferenten der IG Metall, und wir haben unseren Anteil daran. Sie meinen dies positiv. Sie demaskieren sich selbst, wie sie in der Stunde der größten Not den Widerspruch von Kapital und Arbeit verschleiern. Der bundesdeutsche Erfolgsweg der letzten 40 Jahre ist eng verbunden mit dem Produktivitätssog nach der Vernichtung von Volksvermögen im letzten Weltkrieg. Eng verbunden auch mit deutschem Fleiß weit über Arbeitszeit- und Arbeitsschutzbestimmungen hinaus. Verbunden mit der Untertanenmentalität der Deutschen. Verbunden mit einem so rasanten Wirtschaftswachstum, daß Kapitalisten sich Schönwettergewerkschaften und eine Schönwetterdemokratie leisten konnten. Jetzt, da es stürmisch wird, wird die Kumpanei offensichtlich, und den Gewerkschaften laufen die Mitglieder davon.

Kein Wunder, daß die Gewerkschaftsfunktionäre zu einem letzten Schwanengesang anheben: wie toll sie doch waren in den letzten Jahrzehnten, und wie innovativ sie auf die Herausforderungen der Zukunft reagieren: Arbeitsplätze teilen, Finanzierung eines Billiglohnarbeitsmarkts durch die Steuerzahler, Finanzierung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung durch die Arbeitnehmer. Reallohneinbußen werden als Arbeitszeitverkürzung gefeiert. Arbeitslosigkeit als Freizeitgewinn. Die Beschäftigten merken, wie sie von ihren eigenen Organisationen über den Tisch gezogen werden.

Am Beispiel von VW wird es offensichtlich. Es kommt nur auf die Wortwahl an. Man kann von einer befristeten Beschäftigungsgarantie sprechen oder aber davon, daß es in zwei Jahren weitergeht mit Massenentlassungen, wenn die Beschäftigten nicht weiter ihren Reallohn reduzieren, und so weiter. Die Profitrate wird auf diese Weise erhöht. Betriebswirtschaftlich braucht VW das Geld nicht, das es seinen Beschäftigten entzogen hat. Mit diesem Geld saniert VW seine Tochter SEAT.

Es war ein epochaler Unsinn zu glauben, der Kapitalismus ließe sich bändigen. Und damit sei die Aufgabe der Gewerkschaften und der Sozialisten erfüllt. Jetzt wedelt der Hund wieder mit dem Schwanz. Karl-Heinz Thier, Hamburg

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