: „Jesus hat keinen Text“
KRIPPENSPIEL Wo findet Weihnachten statt? Im Fernsehen ganz sicher, so viel wissen die Kandidaten im vorweihnachtlichen Wettbewerb, den das Theater Thikwa mit viel Lust am Unsinn ausrichtet
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Dürfen die das? Witze machen über den kleinen Weihnachtsbaum, der so leicht verkrüppelt aussieht? Petra Schippel, Diakonin aus Hannover im steifen Festkleid, streicht zärtlich die müde nach unten hängende Spitze und hält einen sachlichen Vortrag über die Windbestäubung der Tanne. Die anderen sieben Kandidaten in diesem vorweihnachtlichen Wettbewerb kriegen sich nicht mehr ein vor Giggeln, eine Schulklasse in der Pubertät kann das nicht besser.
Überhaupt, wie sie es lieben, sich doof anzustellen. Der Showmaster, der seine Kandidaten so vorführt, wie Kandidaten eben vorgeführt werden, kann es selbst kaum fassen, mit welcher Lust sie sich lächerlich machen: wer im Wettbewerb um den schönsten Weihnachtsbaum sein Krüppeltännchen am schnellsten unter Lametta begraben kann.
Das Thikwa Theater gibt „Schippels Traum – ein vorweihnachtliches Qualifying“. Natürlich ist das eine Persiflage auf Spielshows, Weihnachtsrummel und sentimentale Familieninszenierungen. In zwei, drei Szenen spielen sie dabei auf ein Stück von Carl Sternheim an, „Bürger Schippel“, über einen verachteten Underdog, der nur ob seiner schönen Stimme Zutritt zur bürgerlichen Gesellschaft erhält. Sie alle identifizieren sich mit diesem Schippel, alle acht Kandidaten tragen seinen Nachnamen. Da steckt ein Ansatz zur bösen Satire drin, der den Blick von Carl Sternheim vom Anfang des letzten Jahrhunderts mit einer Kritik an der Lust der Medien, die Unterschicht auszustellen und im Bild zu vermarkten, kurzschließt. Das ließ sich am Anfang der Inszenierung, für die die Regisseurin Antje Siebers das erste Mal mit dem Thikwa-Ensemble aus behinderten und nicht behinderten Schauspielern gearbeitet hat, als Konzept erahnen. Allein die kritische Spur verlor sich bald unter der Begeisterung, mit der die Schauspieler ihre Kandidatenpaare aus Hannover, Neukölln, München und Magdeburg spielen.
Neu war nicht nur die Regisseurin, auch vier der Schauspieler stießen erst dieses Jahr zum Ensemble. Das Gewebe von „Schippels Traum“ ist locker genug, die unterschiedlichsten Darstellungsfähigkeiten zu integrieren.
Das Stück arbeitet auch mit biografischen Zeugnissen der Einzelnen, die aber von ihren Autoren losgelöst in Monologen zusammenfließen. Der Showmaster spricht sie: Dann hat er seine blonde Perücke abgenommen, ein einsamer Scheinwerfer hebt ihn aus dem Dunkel hervor, und er erzählt von Weihnachtsabenden, geliebten und gefürchteten, im Heim und in der Familie, von Vorfreude und verdorbener Freude, von Liebe und von Heuchelei, vom Ausgestoßensein und vom Integriertseinwollen. Man beginnt zu ahnen, dass Weihnachten in einem Leben mit Behinderung eine andere, größere Bedeutung haben kann als für die, denen die Auseinandersetzung mit der Abweichung nicht abverlangt wird und soziale Zugehörigkeit sicher ist.
Zu einem Höhepunkt läuft der Abend auf, als die Kandidaten zur Laienspielgruppe werden, um die Weihnachtsgeschichte zu erzählen. „Ich bin Maria“ ruft Frau Schippel aus Magdeburg, drohend klingt das, fast stampft sie mit den Füßen auf, damit man es auch glaubt. Die Hirten nölen, immer bloß Schafe; der Engel macht sich wichtig mit seiner Botschaft und will die Definitionsmacht über die Rollen der anderen behalten; Jesus, ohne Hemd auf dem Rücken liegend und mit den Beinen strampelnd, mault: „Mir ist kalt.“ – „Jesus hat keinen Text“, fährt ihm der Spielleiter über den Mund. So viel zu Kunst, Macht und der Wahrheit des Theaters.
■ Wieder vom 14. bis 18. Dezember im F40, Fidicinstraße 30