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Jens Peters über Schauspiel ohne AutorUnterschiede aushalten!

Aktuelles Sprechtheater verzichtet oft auf AutorInnen. Das ermöglicht mehr Formenvielfalt, sagt der Osnabrücker Chefdramaturg Jens Peters

Stefan Hornbachs „Über meine Leiche“ hat 2015 den Dramenwettbewerb Osnabrück gewonnen. Jetzt wird’s gespielt Foto: Lewandowski/Theater Osnabrück

Roman oder Theaterstück? Well-made Play oder Textfläche? Recherchetheater oder Klassiker? Vermeintliche Gegensätze, Trends und Gegentrends, Krisen und Lösungen gibt es viele im Theater. Und es hat sie immer gegeben – allerdings mit unterschiedlichen Gewichtungen, Bedürfnissen und Nuancen in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen. Auch Shakespeare hat schon Prosa dramatisiert, unter anderem diente „Holinshed’s Chronicles“ als Grundlage für die meisten seiner Historienstücke, und mit den Themen auf die aktuellen Bedürfnisse seiner Umwelt reagiert – ein Vorgang, der heutigen Romanadaptionen den Vorwurf einträgt, man würde mit ihnen nur den neuesten Moden hinterherlaufen.

Allerdings geschah das beim großen englischen Dramatiker unter anderen Voraussetzungen als heute. Daher möchte ich, anstatt abstrakt und ahistorisch unterschiedliche Texte auf dem Theater zu untersuchen, diese in einem konkreten Kontext beleuchten: dem System „Stadttheater“, so wie es aktuell existiert – mit Beispielen aus meinem eigenen aktuellen Erfahrungsumfeld, dem Theater Osnabrück.

Jenseits der großen Städte sind die Stadttheater häufig die einzigen Orte, an denen man professionelles Theater erleben kann. Sie wenden sich daher bewusst an das gesamte potenzielle Publikum vor Ort. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Stadt, ihren Menschen, Orten, Besonderheiten und ihrer Geschichte ist die Grundlage jeder künstlerischen Arbeit an den Theatern.

Ziel dabei ist es immer wieder, eine möglichst große Bandbreite an Themen, Genres und Stilen so künstlerisch ausgeprägt und differenziert wie möglich umzusetzen. Die Aufgabe, aber auch die besondere Stärke der Stadttheater liegt also in der aufregenden, anregenden, manchmal auch explosiven Mischung ihres Programms.

Was bisher geschah ...

Sterben die DramatikerInnen aus? Mindestens scheinen sie verzichtbarer geworden. Auf AutorInnen verzichtet wird oft bei im Ensemble und/oder mit sich selbst darstellenden ExpertInnen des Alltags entwickelten Performances.

Andererseits richten die Dramaturgien der Theater zunehmend selbst Romane und Filme für die Bühne ein: Allein in Norddeutschland spielen in dieser Saison fünf Theater von Osnabrück bis Hamburg je ihre hauseigene Fassung von Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“.

Es gibt auch die Gegenbewegung: So prämiert Osnabrück seit 2015 jährlich einen Stückentwurf mit 6.000 Euro und Aufführungsgarantie (Einsendeschluss 15. 3.)

Haben Theater-AutorInnen noch eine Chance? Oder ist das DramatikerInnensterben Programm? In der taz formulieren norddeutsche AkteurInnen des Sprechtheaterbetriebs ihre Position

Gerade hier spielen die Texte eine zentrale Rolle – sie sollten also genauso vielfältig sein. Daher ist es erst einmal erfreulich, dass die Entwicklung von Schreib- und Inszenierungsstilen – die eng miteinander verzahnt einander auch gegenseitig beeinflussen – sich immer weiter ausdifferenziert hat. „Das“ Stück gibt es einfach nicht.

Schon bei Brecht (und davor) gibt es Formen des Erzählens neben den Dialogen der „klassischen“ Dramatik, und bei Autoren wie Elfriede Jelinek, Ewald Palmetshofer oder ganz aktuell auch Stefan Hornbach, dessen Stück „Über meine Leiche“ diese Spielzeit in Osnabrück uraufgeführt wurde, haben sich diese epischen oder narrativen Formen in ganz unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt.

Narration, die stilistische Form der Prosa, ist also schon längst auch im Theatertext angekommen. Die Anforderungen einer Romanadaption für die Bühne unterscheidet sich daher nicht grundsätzlich von denen, die Texte dieser und anderer Theaterautoren stellen; es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Pole innerhalb eines Textspektrums.

Jens Peters

34, Dissertation über zeitgenössische deutsche und englische Dramatik 2008, ist Leitender Schauspieldramaturg am Theater Osnabrück. Studiert hat er an der University of Cambridge und an der Royal Academy of Dramatic Art sowie am King’s College, London. Foto: Uwe Lewandowski/Theater Osnabrück

In beiden Fällen müssen Regie und Schauspieler eine Haltung, einen Zugang zum Erzählten finden; eine eigene Ebene, die sich zum Text im Idealfall kontrapunktisch verhalten kann, das heißt, es gibt spannungsreiche Differenzen, aber auch immer wieder energiegeladene Momente des Ineinanderfallens.

Auf der anderen Seite werden auch weiterhin realistische, dialogische Stücke gespielt, sei es eine Komödie wie Lutz Hübners „Frau Müller muss weg“ in der Regie von Dominique Schnizer (übrigens ein Beispiel für einen sehr erfolgreichen zeitgenössischen Text, der es selbst zur Adaption, nämlich im Kino, gebracht hat) oder Drama der großen Ideen und Konzepte wie Ferdinand von Schirachs Terror (Regie: Ron Zimmering).

Die Chance des Stadttheaters ist es, genau dieses Nebeneinander der Unterschiede zu ermöglichen. Ich halte es deshalb für falsch, ein bestimmtes Genre, sei es Romanadaptionen oder Dokumentartheater, per se zu kritisieren. Hier gilt die Kunst des Spielplans: Ist er ausgewogen, sprechen all diese Texte und Formen miteinander. Tatsächlich wäre es interessant, das Stadttheater und seine Spielpläne als Phänomen der Intertextualität zu untersuchen. Dieser Austausch kann durchaus auch kontrovers sein: eine Adaption von Houellebecqs „Unterwerfung“ (in Osnabrück in Regie von Robert Teufel) und Schirachs „Terror“ präsentieren nicht nur inhaltlich, sondern eben auch formal-ästhetisch ganz unterschiedliche Aspekte, die sich aus der immer größeren kulturellen Durchmischung in Europa ergeben können.

Tatsächlich sollten Inhalt und Form nie getrennt voneinander gesehen werden. Die Entscheidung für eine Romanadaption ist immer auch eine bewusste Entscheidung für die Auseinandersetzung mit genau dieser Art von Text, die Regie, Dramaturgie, Ausstattung und Schauspieler für die Bühne fruchtbar machen wollen. Vielleicht ist es ja an der Zeit, auch Lyrik verstärkt auf die Bühne zu holen und die theatralen Chancen zu entdecken, die in diesem Genre verborgen liegen?

Hierfür existieren durchaus schon Beispiele wie Robert Wilsons Inszenierung von Shakespeares Sonetten am Berliner Ensemble (2009) oder T. S. Eliots „The Waste Land“ in der Regie von Deborah Warner in der Wilton’s Music Hall, London (2010). Schließlich sollte genau das die Aufgabe des Stadttheaters sein: Räume für Differenzen, Räume für Experimente in und mit Texten schaffen. Dafür ist es wichtig, nicht nur Bestehendes zu inszenieren, sondern auch Neues zu fördern.

Dieses Ziel hat sich zum Beispiel der Osnabrücker Dramatikerpreis gesetzt, der in diesem Jahr zum dritten Mal ausgeschrieben ist. Dadurch, dass Entwürfe und keine kompletten Stücke eingereicht werden, liegt der Fokus des Preises ganz klar auf der Entwicklung, nicht auf dem fertigen Produkt. So soll vielversprechenden, vielleicht auch verrückten, unkonventionellen Ideen Raum zum Wachsen gegeben werden – professionell begleitet von einer Jury, die sich aus ganz unterschiedlichen Theaterprofessionen zusammensetzt, die alle ihren ganz speziellen Blickwinkel auf den Text mitbringen.

Wenn Vielfalt eines der Ziele unserer Arbeit am deutschen Stadttheater sein sollte, ist es auch relevant zu fragen, welche Art von Texten momentan noch unterrepräsentiert ist. Meiner Meinung nach sind dies besonders poetische Stücke: Texte, die die Kraft der Sprache zur Verdichtung und zum sprachlichen Bild nutzen, gleichzeitig sinnlich-konkret sind und die nicht mit einer gleich zu entschlüsselnden Botschaft oder politischen Stoßrichtung aufwarten. Ein Beispiel wäre hier Niki Orfanous „Lucas and time“, den Felicitas Braun am Theater Osnabrück uraufgeführt hat und der besonders durch seine kunstvolle Konstruktion von Leerstellen (wie dem im Titel benannten aber als Figur auf der Bühne abwesenden Lucas) und die konsequente und subtile Verwendung von Leitmotiven besticht.

In der aktuellen Debatte um neue Dramatik wird immer wieder eine „Welthaltigkeit“ der Stücke gefordert. Vielleicht kann dies ja eher über das Philosophisch-Abgründige, das überhöht Poetische erreicht werden als allein durch die Auseinandersetzung mit tagesaktuellen Themen – deren Relevanz für die größtmögliche Diversität des Spielplans unbenommen bleibt. Also wünsche ich uns und allen Theatermachen – egal ob Autoren, Schauspieler oder Regisseure – vor allem eins: Mut zur Komplexität!

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