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Jelzin will Macht, Macht...

■ Bei der Sitzung des russischen Parlaments warnt Jelzin die Sowjetrepubliken vor dem Verlassen der Union/ Radikale Wirtschaftsreformen beginnen mit Freigabe der Preise

Moskau (afp/dpa) — Mit einem Überraschungs-Coup hat Boris Jelzin die Sitzung des russischen Parlaments in Moskau eröffnet. In einer mit viel Beifall bedachten Rede schlug der Präsident vor, ihn in Personalunion auch zum Regierungschef der größten Republik der Sowjetunion zu ernennen. Nur durch zusätzliche Machtbefugnisse könnten die radikalen Wirtschaftsreformen durchgeführt werden. Die neue Exekutive solle eine „Regierung des Volksvertrauens“ sein, der vor allem Spezialisten angehören müßten. Seitdem der bisherige russische Premier Iwan Silajew nach dem Moskauer Putsch zum Chef der sowjetischen Übergangsregierung ernannt wurde, hat Rußland keinen Ministerpräsidenten.

Doch der russische Präsident nahm vor mehr als 800 Delegierten auch bei anderen Themen kein Blatt vor den Mund. Ultimativ warnte er die Sowjetrepubliken vor der Behinderung einer neuen politischen Union und der Aufstellung nationaler Streitkräfte. Statt dessen plädierte Jelzin für die Beibehaltung vereinigter Streitkräfte der souveränen Staaten. „Wenn aber der Prozeß der Schaffung nationaler Armeen der Republiken einsetzt, bleibt uns nichts anderes übrig, als eine russische Armee aufzubauen.“ Sollte die Schaffung einer neuen Union fehlschlagen, drohte Jelzin, „kann Rußland die Verantwortung als Rechtsnachfolger der Union übernehmen“. Falls andere Republiken nicht auf die Herausgabe eigener Währung verzichteten, würde auch die russische Bank russisches Geld herausgeben.

Als bedeutendste Maßnahme für die Stabilisierung der Volkswirtschaft nannte Jelzin die Freisetzung der Preise noch in diesem Jahr. „Wir haben die politische Freiheit erreicht, nun benötigen wir auch die ökonomische“, begründete er seine seit langem angekündigten unpopulären Maßnahmen. Der russische Präsident erwartete erste Erfolge seiner Reformen bereits bis zum Herbst 1992. Bis zum Frühjahr soll die Landwirtschaft privatisiert werden. Allerdings dürften produktiv arbeitende Kolchosen und Sowchosen nicht bedrängt werden.

Angesichts des Bestrebens einiger Gebiete innerhalb der russischen Föderation, sich von der Republik zu lösen, bekräftigte der Präsident in seiner über einstündigen Rede, daß die territoriale Integrität der Republik unverletzlich sei. Mögliche Veränderungen der Grenzen könnten nur auf verfassungsmäßigem Weg erfolgen. Jelzin betonte, die „reale Macht“ liege heute bei den Republiken. Rußland werde nicht zulassen, daß ein Zentrum über ihm stehe.

Volkspartei will Vermögen der KPdSU

Der Kongreß nominierte auch fünf Kandidaten für die Wahl des neuen Parlamentspräsidenten, darunter erneut auch den bisherigen stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Sowjet, Ruslan Chasbulatow, sowie den Vertreter der kommunistischen Fraktion, Sergei Baburin. Da keiner im Verlauf der ersten Sitzung des fünften Kongresses der Volksdeputierten im Juli die notwendige Mehrheit auf sich vereinigen konnte, wurde die Tagung verschoben. Gleich zu Beginn hatten die Volksdeputierten die Beratung einer neuen Verfassung von der Tagesordnung genommen.

Die Partei russischer Kommunisten unter dem Vizepräsidenten der Russischen Föderation, Alexander Ruzkoi, hat sich bei ihrem ersten Parteitag am Wochenende den Namen „Volkspartei des Freien Rußlands“ gegeben. Gleichzeitig erklärten die Delegierten die Partei „zur einzigen legitimen Erbin“ des Vermögens der KPdSU auf russischem Boden.

Die Gruppe um Ruzkoi hatte sich ursprünglich innerhalb der KPdSU organisiert, um die Partei von innen zu demokratisieren. Seit dem gescheiterten Putsch in Moskau konstituierte sich die Gruppierung als eigenständige Partei. Sie befürwortet soziale Reformen und den Übergang zur Marktwirtschaft. Ruzkoi begrüßte den Namenswechsel, da die „kriminelle Politik der KPdSU“ das Wort „kommunistisch“ diskreditiert habe. Weiterhin stehe man jedoch in der „humanistischen und demokratischen Tradition“ der kommunistischen Parteien.

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