■ Jelzin und Lebed einigen sich über Tschetschenien-Kurs: Frieden durch Fakten
Wenn Moskaus politische Kaste zum drängendsten Problem des Landes Stellung bezieht, übt sie sich in himmelschreiendem Zynismus. Oder wie anders soll man es nennen, wenn Präsident und Premier den Friedensbemühungen ihres Sonderemissärs Lebed in Tschetschenien mit kleinlich-dümmlichen Störmanövern in die Seite fahren, um dessen Vertrauen auf der Gegenseite zu unterminieren. Sie legen ihre Hände in den Schoß, wenn Moskaus Marionette Sawgajew dem General unterstellt, den Coup der Separatisten angezettelt zu haben. Doch damit nicht genug, ihr Verhalten gefährdet sogar die Sicherheit der eigenen Truppen. Präsident und Premier haben den tschetschenischen Karren in den Schlamm gesetzt. Wollen wir zu ihren Gunsten annehmen, daß es nun ihrer Scham geschuldet ist, wenn sie die Öffentlichkeit scheuen.
Unterdessen läuft die Abwicklung der technischen Entknäuelung der Konfliktparteien erstaunlich reibungslos. Russen und Tschetschenen räumen Grosny, die Invasoren verlassen selbst jene Bergregion, um die sie Monate kämpften. Der Abzug auch ohne klare Weisung aus Moskau schafft neue Realitäten. Jeder Versuch, den Status quo ante wiederherzustellen, muß scheitern. Würden dennoch Anstrengungen unternommen, müßte der Kreml mit einer kaukasischen Front rechnen, die sich von der Kaspisee bis zum Schwarzen Meer erstreckt und das Reich auf unabsehbare Zeit ins Chaos stürzte.
Lebed hat den Kreml gewarnt. Vielleicht hat man die Mahnung sogar begriffen. Unbeirrt fährt der Emissär fort, Nägel mit Köpfen zu machen. All das indes ohne näher definierte Weisungs- und Unterschriftsbefugnis. Das gibt zu denken. Lebed sollte sich im Kaukasus das Genick brechen, statt dessen offenbarte er Verhandlungsgeschick und brachte den Frieden voran. Die Kremlintriganten stehen da wie begossene Pudel. Lange sah es so aus, als könnten seine Gegner den Patrioten Lebed als Verräter russischer Interessen im Kaukasus erscheinen lassen. Gestern nun hat sich Jelzin vor den General gestellt, der um Rußlands Größe bangt. Bleibt die Frage: Warum erst so spät? Die Antwort darauf wird vielleicht der Fortgang der Verhandlungen mit den Tschetschenen geben. Klaus-Helge Donath
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