: Jedes Bild ein Volltreffer
Die Wirklichkeit mit allen Mitteln der Kunst verschleiern und manipulieren: Mit „History of Everything“ widmet die Londoner Tate Modern Sigmar Polke eine großangelegte Retrospektive
von PAMELA JAHN
Im Innern der Londoner Tate Modern gibt es keine Wolken, keinen Regen, nur Sonne. Ein gigantischer, goldener Lichtpunkt strahlt dieser Tage mit überwältigender Kraft vom Stahlhimmel der Turbinenhalle und reißt nicht wenige Besucher zu einem spontanen Happening auf dem eiskalten Boden darunter hin. Erst ein Blick hinter die aufwändige Konstruktion, die der Künstler Olafur Eliasson speziell für diesem Ort erschuf, macht Lampen und Kabelgewirr sichtbar – offenbart die Illusion dieser brillanten Installation.
Etwa in Sonnen-Höhe, auf der vierten Ausstellungsebene des ehemaligen Ölkraftwerks, spielt einer noch eleganter mit trügerischen Hoffnungen. Hier verschleiert und manipuliert Sigmar Polke die Wirklichkeit mit allen Mitteln der Kunst, um unseren Blick zu schärfen für die großen und kleinen Dinge des Lebens, für Geschichte und Zeitgeschichte. Der deutsche Maler, dem die Tate Modern mit „History of Everything“ eine großangelegte Retrospektive widmet, liebt das unbefangene Experimentieren mit dem Bildwitz, das Spiel mit der Illusion und versetzt damit in seinen Werken seit Jahrzehnten formal und inhaltlich wunderbare Kinnhaken. Wenn er in seinen frühen Zeichnungen aus den 60er-Jahren den Zeitgeist, die Werbe- und Lebensklischees der noch jungen Republik wie einen Spielball abfängt, dann greift er auf ein Bildgut zurück, das damals vielen vertraut war, von den Würstchen zum Nippesreiher bis hin zu politischer Prominenz wie Chruschtschow und Nixon.
Gezeigt werden in London neben dem Frühwerk Arbeiten aus den letzten sechs Jahren, allen voran eine Werkgruppe von Bildern und Zeichnungen, die Polke für eine Ausstellung im Museum of Art von Dallas zusammenstellte und die für das europäische Publikum um 20 bisher meist unveröffentlichte Großformate erweitert wurde. Die teuer bezahlte Sonderschau in London bietet viel Platz und die nötige Ruhe zum Decodieren seiner jüngsten Streiche: ungerahmt an die Wand geheftete Riesenplakate und transparente Riesenleinwände, die wie in der „Jagd auf die Taliban und Al Qaida“ entweder unmittelbar, ein andermal weniger offensichtlich an weltpolitische und medienkritische Themen gebunden sind. Gleich einen Raum weiter findet man sich umzingelt von Papp-Cowboys, Rangern und jeder Menge rauchender Colts – die klassischen Motive der texanischen Waffenkultur. Hier wird nicht mehr lange gefackelt, jedes Bild ein Volltreffer. Und auch die durchlöcherte Zielscheibe, die der Schütze in „Splatter Analysis“ mit kritischem Blick inspiziert, zählt stolze 123 Durchschüsse im innersten Kreis. Der Titel des Bildes „I Don’t Really Think About Anything to Much“, auf dem eine Frau hinter ihrer dicken Sonnenbrille hervorgrinst und stolz das Ergebnis ihres Zielvermögens präsentiert, ist hier Programm. Nicht so bei Polke. Was er auch fabriziert, er überlegt genau, zielt, dann punktet er.
Sein permanenter Denkprozess überträgt sich dabei mehr und mehr auf den Betrachter, je weiter sich dieser von den Bildern entfernt, um das Gezeigte in seiner vielschichtigen Dimension ganz erfassen zu können. Das Auge ist Scanner und Objektiv zugleich, das den benötigten Schärfegrad erst langsam ausloten und die einzelnen Bildelemente miteinander in Beziehung setzen muss, bevor ihre individuelle Bedeutung und Widerborstigkeit hervortreten. Einst befahlen ihm höhere Wesen, die rechte obere Ecke eines Bildes schwarz zu malen. Heute scheint der Künstler ganz sein eigener Herr zu sein. Enorm fasziniert ist er nach wie vor von den Punktrastern der Zeitungsfotos. Es ist die Suche nach den winzigen, durch die Druckerschwärze kaum merklich verwischten Punkten der gerasterten Fotos, die ihn antreibt und denen er in Zeitungen und Nachrichtenmagazinen, aber auch in Pornoheften oder Kunstzeitschriften akribisch nachstellt. Wie unter einem Riesenmikroskop plustert er die fehlerhafte Druckstelle auf und schafft aus der medialen Missbildung, die er lackiert, collagiert oder mit schillernden Drahtgeflechten und diversen Stoffen kombiniert, ein neues Kunstwerk, das seine eigene „realistische“ Identität hat, das gleichzeitig aber auch alles bedeuten kann, wären da nicht die ironischen Titel oftmals Kompensation des vordergründig Begreifbaren.
„I Live in My Own World, but It’s Ok, They Know Me Here“ heißt eines der wändeschluckenden Punktwerke, die exemplarisch jenen Systemfehler zelebrieren. Eigentlich auch ein guter Titel für die Show. Über allem kreist die Frage, was für eine Welt das nun ist, in der wir, in der Polke lebt. Fest steht: Sie ist gut besucht. Der Katalog zur Ausstellung war bereits kurz nach der Eröffnung vergriffen.
„Sigmar Polke – History of Everything“, Tate Modern, bis 4. Januar 2004