Jeder zweite Patient brauche kein Spital: Kein Vertrauen in Österreichs Kliniken
Mandeln raus, Gebärmutter weg - in Österreichs Kliniken wird gerne etwas zu viel geschnippelt, so Kritiker. Die Intensivstationen seien übervoll. Denn das bringe mehr Geld.
WIEN taz Mit drastischen Fällen und alarmierenden Zahlen unterspickt der Medizinjournalist Kurt Langbein sein neuestes Buch, mit dem er in Österreichs öffentlichem Gesundheitswesen ein Wespennest angestochen hat. Was Langbein in seinem Anfang des Monats erschienenen Buch "Verschlusssache Medizin" vorlegt, birgt zwar wenige neue Fakten, ist aber in seiner Diagnose umso brisanter: Das österreichische Gesundheitssystem ist zu teuer, schlecht organisiert und zuweilen lebensgefährlich.
Denn jeder zweite der von Ärzten ins Krankenhaus eingewiesenen Patienten brauche gar kein Spital. Aber weil es so viele Betten gibt, die auch belegt werden wollen, damit sie sich rentieren, landen drei von zehn Einwohnern pro Jahr im Krankenhaus.
Die Vorarbeit leistete der pensionierte Chirurg Franz Stöger aus Tulln, der als Konsulent des Niederösterreichischen Gesundheits- und Sozialfonds (Nögus) mehr als 500 Krankengeschichten aus dem Jahr 2005 unter die Lupe nahm.
Es handelt sich durchweg um Fälle aus den chirurgischen Abteilungen, die zwecks Abrechnung an die Zentrale geschickt worden waren. Die Abrechnung erfolgt auf der Grundlage von medizinischen Einzelleistungspunkten (MEL).
Aus der Analyse ist zu schließen, dass es in den meisten Krankenhäusern Praxis ist, Patienten länger als nötig stationär zu behandeln, um diese Punkte zu sammeln. Nach vergleichsweise unkomplizierten Schilddrüsenoperationen seien in Hollabrunn drei von vier Patienten auf der Intensivstation gelandet, in Scheibbs gar 31 von 33. Stögers Resümee: "Hier handelt es sich entweder um eine Punkteoptimierung oder um ein postoperatives Überwachungsproblem."
Gebärmutterfreie Landstriche
Im Krankenhaus Neunkirchen sammelte man Punkte, indem man Patienten zusätzlich zum vorgesehenen Eingriff noch - quasi als Serviceleistung - Blinddarm oder Gallenblase herausschnitt. Das Wochenmagazin Profil zitiert den Gesundheitsökonomen Ernest Pichlbauer, der als ehemaliger Mitarbeiter von Nögus weiß, wovon er spricht: "Wir haben eine extrem hohe Quote an Blinddarmentfernungen, es gibt Regionen, die sind gebärmutterfrei, es gibt viel zu viele Mandeloperationen, und das nur", so seine Erklärung, "um möglichst jede Versorgungseinrichtung zu rechtfertigen."
Österreich rühmt sich einer extrem hohen Dichte an Spitalsbetten. Spitäler sind Einrichtungen, die in jedem Bundesland und jedem Bezirk zu den Prestigeobjekten der Politik zählen. Jeder weiß, dass es längst zu viele gibt, doch Reformversuche sind bisher regelmäßig an der geschlossenen Front der Landeshauptleute zerschellt.
Der Gesundheitsökonom Christian Köck führt schon seit Jahren einen Kampf gegen Windmühlen: "Seit 25 Jahren kreisen wir immer um dieselben Fragen - Doppel- und Dreifachuntersuchungen, Schnittstellen, wo Informationen verloren gehen, zwei Krankenhäuser, die in zehn Kilometer Entfernung genau das Gleiche machen, weil dazwischen eine Landesgrenze liegt, und vieles mehr - aber es ändert sich nichts."
Keine einzige Studie hat sich bisher mit Ärztefehlern in Österreich befasst. Mit dieser Analyseverweigerung steht Österreich in der EU fast alleine da. Deswegen sind die 2.500 Patienten, die jedes Jahr durch Behandlungsfehler zu Tode kommen, Ergebnis einer Hochrechnung. Plausibel ist die Zahl allemal. Sie entspricht 0,1 Prozent der 2,4 Millionen in Österreichs Spitälern behandelten Patienten.
Wer die Dienstzeiten der Chirurgen kennt, wundert sich nicht. Auch in Österreich ist es üblich, dass Turnusärzte und -ärztinnen 24 Stunden im Stück im Krankenhaus bereitstehen müssen. Eine tödliche Gefahr!
Nach 17 Stunden operieren wie unter 0,5 Promille
Langbein beruft sich für diese Analyse auf eine Studie aus Australien aus dem Jahr 1997. Da wurde das Reaktionsvermögen von Probanden nach längeren Wachzeiten mit jenem von alkoholisierten Testpersonen verglichen.
Nach 17 Stunden wiesen die Versuchspersonen motorische Fehlleistungen und verzögertes Reaktionsvermögen auf, wie sie durch 0,5 Promille Alkohol im Blut verursacht werden.
Solche Leute, die kein Verkehrspolizist weiterfahren ließe, operieren aber regelmäßig in den Krankenhäusern. Langbein: "Das ist überall üblich und wird nicht hinterfragt - kein Aufschrei der Ärztekammer, keiner der Gewerkschaft, ja nicht einmal der Patientenanwaltschaft.
Der Aufschrei der Ärztekammer erfolgte vielmehr gegen Langbeins Buch, das übertreibe und nicht nachvollziehbare Zahlen liefere. Erwin Rebhandl, Präsident der Gesellschaft für Allgemeinmedizin, hält die Zahl von angeblich 2.500 Todesfällen wegen Behandlungsfehlern für zu hoch gegriffen und nicht wissenschaftlich begründet.
Anders sah das Gerald Bachinger, Sprecher der Patientenanwälte, im Ö1 Radio. Statistiken aus 30 Ländern seien von EU-Gesundheitskommissarin Vassiliou vor einigen Wochen präsentiert worden und gingen auf eine Studie auf hohem wissenschaftlichem Niveau des Aktionsbündnisses Patientensicherheit in Deutschland zurück.
Bachinger sah keinen Hinweis darauf, dass diese Zahlen für Österreich nicht zuträfen. Österreich habe sicher das gleiche Qualitätsproblem wie andere westeuropäische Gesundheitssysteme.
Als Teil der Lösung empfiehlt Langbein die Verlagerung der medizinischen Behandlung zu den niedergelassenen Ärzten. Und in den Spitälern müsse Qualitätssicherung das quantitative Punktesystem ablösen. Vielleicht hilft ja die Wirtschaftskrise den Politikern, die nötigen Reformen auch gegen Widerstände durchzudrücken.
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