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Jean Arp-Ausstellung in BremenFrieden in der Welt der Nabel

Was es alles Gips! In nie dagewesener Fülle haben Jean Arps bestimmt unbestimmte Figuren das Gerhard-Marcks-Haus in Bremen erobert.

Nach Selbstauskunft „in einer Wolke geboren“: Jean Arp, hier mit Monokel im Jahr 1926 Foto: public domain

Gipskörper haben den Raum besetzt. Gipskörper, massenhaft Gipskörper, die in ihrer entschiedenen Unbestimmtheit an Figuren erinnern, die man irgendwoher kennt, aber gerade vergessen hat. Sie drängen sich ballonartig gewölbt oder kurvig-konkav zusammen auf den weißen Sockeln im zentralen Saal des Bremer Gerhard-Marcks-Hauses, Miniknubbel neben meterhohen Stängeln, rosé­farbige, glattpolierte, raue.

Es sind Hunderte, dicht an dicht, wie eine Invasion, wobei Jean Arps Plastiken auf eine seltsame Weise immer eine schwer fassbare Freundlichkeit ausstrahlen: Nichts an ihnen ist Kampf, nichts Strenge, nichts Verzweiflung.

Jean Arp, manche sagen auch Hans, ist unter Laien vielleicht kein so bekannter Name mehr. Aber der Elsässer, 1886 nach lyrischer Selbstauskunft „in einer Wolke geboren“, ist der prägendste Bildhauer der klassischen Moderne: Allenfalls Henry Moore und Constantin Brâncuși kommen da noch ran.

Prägend heißt nicht: der beste oder der bedeutendste; das sind ohnehin romantische Kategorien ohne jeden Wert. Aber prägend, das lässt sich nachprüfen – denn nicht nur die Art, Kunst zu sehen, sondern auch überhaupt Welt wahrzunehmen, ist so deutlich von Jean Arps plastischen Arbeiten mitbestimmt, wie sonst höchstens durch die Malerei Pablo Picassos.

Wo Blumen seufzen

Gut ablesen kann man das zum Beispiel an den zahllosen – zuverlässig reaktionären – Versuchen, moderne Kunst per Karikatur zu verspotten. Sie zeigen Betrachter, die sich wahlweise ratlos einer Arlésienne-Parodie im Bilderrahmen gegenüber stehen, oder die sich eben über eine wolkig-organische Form auf einem Sockel wundern, weil sie nicht erkennen können, was das denn nun wieder sein soll.

Die besten Antworten nicht nur auf diese Frage sind lyrisch: In einem Prosagedicht hat Paul Éluard Arp den Willen zugeschrieben, selbst in erkalteter Asche noch jene kleinen Vögelchen zu suchen, „die nie die Flügel schließen“. Alles klar?

Zum Glück nicht! Sich auf Arp einzulassen, heißt, einer Fantasie zu folgen, die ihren Flug selbst dann nicht einstellt, wenn sie verbrannt, gestutzt und tot ist, zum Werk geronnen, zum Standbild: Das klingt an in Titeln wie „Seufzer einer Blume“, „Frucht unterwegs“, „Landschaft oder Frau“ – oh, diese wundervolle, aber das bürgerliche Zucht-, Ordnungs- und Sicherheitsbedürfnis verletzende Unbestimmtheit! Diese Formen, deren Dialektik unvermittelt bleibt, erlöst vom Zwang, sich zwischen Masse oder Gestalt zu entscheiden!

Dem entspricht eine Arbeitsweise, die den Gegensatz von additiven Bildern und substraktiver Hauerei fröhlich nebeneinander bestehen lässt. Auf diese Weise schaffen Jean Arps Plastiken ihre eigene Wirklichkeit. Und wenn man das auch mit einem gewissen Recht auch von jeder anderen Skulptur behaupten kann: Vor ihm war das den Künst­le­r*in­nen allenfalls halb bewusst.

Arp hingegen hatte das schon 1915 als Ziel seines Schaffens benannt, ein Jahr bevor er in Zürich Dada mitbegründet. Er ist es, der dieser Antikunstkunst mit dem Nabel zu einem Signet verhilft, dessen Wiedererkennbarkeit jeden Grafikdesigner vor Neid erblassen lassen muss. Ebenso wie dessen Anwendungsvielfalt. Denn ob Schnurrbart, Stern, Monokel, Gabel oder Tisch: Alles kann ja einen Nabel haben. Oder muss das sogar.

Die Idee der Bremer Ausstellung ist, keine Holz- und keine Steinfigur zu zeigen, und keine Bronze. Dafür aber einmal, erstmals und letztmals, den kompletten Gips, also sämtliche in Kalziumsulfat modellierten Arbeiten Arps.

Das ist natürlich völlig irre, und räumlich hat es das kleine Bildhauer­museum an seine Grenzen gebracht: Etwa 800 Gipsfiguren gibt’s, etwas mehr als 300 stellen sie in der alten Ostertorwache aus, und die Präsentationsweise spielt nicht nur im Gedränge des großen, mittleren Raums mit der Vorstellung von industrieller Massenproduktion.

„Firma Arp“ hat man, leicht häretisch, die Ausstellung genannt. Und auch wenn einzelne Stücke – niemand erfährt, welche – echte Reliquien sein könnten, also von der Hand des Heiligen Hans selbst geformte Körper, und nicht vom Gipser gegipste Auftragsgipse: Das weihevolle Pathos der Original-Verehrung, den Kult ums vermeintliche Unikat zerstört die Ausstellung aktiv.

Das ist nicht ohne Hintersinn. Und auch, dass diese Gips-Orgie gerade hier in Bremen steigen muss, lässt sich erklären. Die Ausstellung markiert nämlich einen halb versöhnlichen, halb ironischen Endpunkt der jahrzehntelangen Querelen um den Arp-Nachlass. Auf die hatte Marcks-Haus-Direktor Arie Hartog durch erkenntnis- und friedensstiftende Forschung eingewirkt.

Der Zwist der Stiftungen

Um hier mal nur die Umrisse der Geschichte anzudeuten: Gipsfiguren sind ja in den seltensten Fällen als autonomes Kunstwerk gedacht. Meist dienen sie als Vorlage für den Guss. So auch im Fall Arp.

Sie nun einmal zu zeigen, ist Ausdruck der Entscheidung der hier zuständigen Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e. V.in Berlin, früher Rolandswerth – bitte nicht verwechseln mit der Fondation Arp in Meudon bei Paris oder gar der Fondazione Arp in Locarno! –, die eigene Gips-Sammlung aufzulösen und an die Museen zu verteilen, die wichtige Arp-Arbeiten besitzen.

Und dann auch Schluss zu machen mit der Nachguss­praxis. Die hatte Arps Bronzeplastiken zum Gegenstand einer erbitterten, seit spätestens 1976 immer wieder auflodernden Auseinandersetzung gemacht. Zum Nachteil der Rezeption.

Die Ausstellung

Die Firma Arp, Gerhard Marcks Haus, Bremen. Täglich außer Montag, 10- 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr. bis 29. 1. 23

Grob gesagt war es darum gegangen, dass sich die drei konkurrierenden, chronisch klammen Stiftungen partiell durch den Verkauf von Neuauflagen der Plastiken finanziert hatten. Das ist legitim und gar nicht so unüblich, bis zu einem gewissen Maß.

Bloß war dieses gewisse Maß mit den posthumen Neuanfertigungen – Arp war 1966 gestorben – aus Sicht der Einen von den Anderen jedenfalls überschritten worden. Die hingegen fühlten, ja wussten sich selbst im Einklang mit dem Letzten Willen des Künstlers, hielten die Praxis der anderen hingegen für …

Für Museen und Sammlungen ist so etwas eine Scheiß­situation. Denn nicht autorisierte Nachgüsse sind rechtlich eher so etwas wie eine Fälschung. Will man das haben oder das dem Publikum zumuten? Von Arp-Ausstellungen wurde weitgehend abgesehen.

Erst vor zehn Jahren konnte dank eines Katalogs des bildhauerischen Œuvres, den Hartog erstellt hat, begonnen werden, diesen Krieg um den Radikalpazifisten zu befrieden: Statt weniger als 400 plastische Arbeiten, die in alten Werkverzeichnissen dokumentiert sind, haben Hartog und der Kunsthistoriker Kai Fischer in dem monumentalen Buch nachgewiesen, dass 2011 Plastiken – gut fünfmal so viel – als echte Arps gelten dürfen. Für einen Toten zeugt das von bemerkenswerter Produktivität.

Vor sieben Jahren gab’s dann in Berlin endlich mal wieder eine große Retrospektive, erstmals seit Jahren. Aber die Präsenz, die Arp als Jahrhundertkünstler gebühren würde, ist für immer perdu. Außer eben in Bremen, wo die schiere Fülle die individuelle Figur als Bestandteil eines in die Wirklichkeit drängenden, ganz eigenen Figuren-Kosmos wahrnehmen lässt.

Es ist dessen furchtlose Unerschöpflichkeit, die hier zur realen Gegenwart gerät und so das Publikum eintaucht in den künstlerischen Prozess. Das aber ist eine sehr tiefe, sehr kostbare ästhetische Erfahrung.

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