Jazzdrummerin Carrington über Diversität: „Ich bevorzuge Gendergerechtigkeit“
US-Drummerin und Lehrerin Terri Lyne Carrington kämpft aktiv gegen Diskriminierung, ungleiche Machtverhältnisse – und fördert gezielt Frauen im Jazz.
taz: Frau Carrington, Sie leiten seit 2018 das Institute of Jazz and Gender Justice und haben 2022 Ihre Anthologie „New Standards – 101 Lead Sheets by Women Composers“ veröffentlicht. Warum braucht es Ihr Engagement?
Terri Lyne Carrington: Ich unterrichte nun seit mehr als zwölf Jahren am Konservatorium in Berklee pro Semester etwa 20 Studierende am Schlagzeug. Darunter war im Schnitt jeweils nur eine Musikerin. Dieses Missverhältnis machte mich nachdenklich. Bei einem Treffen des Women Jazz Collective erzählten mir Musikerinnen von ihren schlechten Erfahrungen an Musikhochschulen. Viele berichteten von unangenehmen Situationen in von Studenten dominierten Klassen, die überwiegend von Lehrern geleitet wurden. Und irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich nicht genug dafür getan hatte, um an diesem Ungleichgewicht etwas zu ändern.
Der Preis Terri Lyne Carrington war für den Deutschen Jazzpreis 2023 in der Kategorie „Schlagzeug/Perkussion International“ nominiert. Der Preis ging schließlich in einer vom Publikum in Bremen verwundert aufgenommenen Entscheidung nicht an die derzeit einflussreichste Jazzmusikerin, sondern an den Chicagoer Drummer Makaya McCraven.
Die Künstlerin Terri Lyne Carrington, geboren 1965 in Medford/Massachusetts, ist Ehrendoktorin am Berklee College of Music, Gründungsdirektorin des Institute of Jazz and Gender Justice, Grammy-Gewinnerin, Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und seit 2021 NEA Jazz Master für ihr Lebenswerk.
Sind Ihre Kurse nur für Studentinnen?
Nein, überhaupt nicht. Wir schaffen in unserem Institut lediglich ein Umfeld, in dem Parität herrscht. Inzwischen studieren etwa 50 Prozent Musikerinnen. Die meisten Lehrkräfte sind weiblich und dazu einige Lehrer. Das Institut ist mittlerweile auf zehn Ensembles angewachsen. Gaststars unterrichten, darunter waren etwa Wayne Shorter und Cassandra Wilson. Es gibt Kurse über „Jazz, Gender und Gesellschaft“ und einen Kurs zum Thema „Schwarze Musik“. Wir kooperieren dabei auch mit der Boston Arts-Academy, um auch Highschoolschülerinnen und -schüler zu integrieren.
Wie viele Studierende sind derzeit an Ihrem Institut eingeschrieben?
Wir haben insgesamt etwa 60 Studierende in den Instrumenten-Leistungsklassen. Im Ensemble müssen sie zusammen als Band funktionieren.
Und die Hälfte davon ist weiblich?
Es ist unmöglich, Parität in allen Ensembles zu schaffen. Manchmal sind es mehr Musikerinnen, manchmal mehr Musiker, aber insgesamt ist es relativ ausgeglichen.
Für Ihre Liedersammlung „New Standards“ haben Sie 101 Kompositionen von Frauen ausgewählt. Wie haben Sie eine Auswahl getroffen?
Ich habe Kompositionen von den Künstlerinnen ausgewählt, die ich persönlich oder von Aufnahmen kannte, und bat sie, etwas beizutragen. Mir war auch wichtig, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Stilen und Schwierigkeitsgraden vorkommt und Stücke von kubanischen und südamerikanischen Komponistinnen dabei sind. Außerdem eine Bandbreite von frühen bis zu zeitgenössischen Stücken des Jazz.
Wie definieren Sie einen Standard? Glauben Sie, dass „New Standards“ Teil des zukünftigen Repertoires von Musikerinnen und Musikern wird?
Das wird sich noch zeigen. Aber ich hoffe, dass viele junge Menschen diese Songs interpretieren und sich auch auf die Sammlung beziehen, besonders als Lehrmittel und als Alternative zum bisherigen Standardnachschlagewerk „The Real Book“.
Wie definieren Sie einen Jazzstandard 2023?
Meine Definition ist, dass ein Standard allgemeingültig und leicht spielbar ist. Wir haben viele solcher Songs in dem Buch, aber auch einige, die anspruchsvoller sind, denn auch die Art des Komponierens hat sich weiterentwickelt. Studierende sind heute an kompliziertere Kompositionsformen gewöhnt. Es wird Musiker:Innen geben, die anfangen, diese neuen Standards zu spielen und in ihr Repertoire aufzunehmen. Die nächste Generation entscheidet, ob es dann Standards werden.
Würden Sie sagen, dass Musikerinnen anders komponieren als Musiker?
Ich bin gerade offen für die Idee, dass es so ist, weil es unterschiedliche Erfahrungen gibt. Früher versuchten wir Musikerinnen meist, Kollegen nachzuahmen. Aber jede und jeder bringt eine eigene Lebenserfahrung ein und erschafft etwas Neues damit.
Sie haben 2021 mit „Next Jazz Legacy“ auch ein Programm zur Unterstützung von Musikerinnen gestartet. Weshalb war dies nötig?
Es ist ein dreijähriges Förderprogramm für Frauen und nichtbinäre Studierende, die das College bereits absolviert haben. Wir vergeben sieben Stipendien pro Schuljahr bei weit mehr als 100 Bewerbungen. Ich wünschte, wir hätten mehr Geld, um allen zu helfen, es gibt so viel Talent in diesem Pool, aber zu wenig Stipendien. Studierende bekommen darin Unterstützung, um ihre eigene Band zu gründen und zu leiten.
Empfinden Sie als Schwarze Frau eine doppelte Diskriminierung? Ist diese Intersektion auch ein Aspekt Ihres Projekts?
Ja, in den USA und im Jazz ist die Schnittmenge von Race und Gender real. Ich könnte niemals über Geschlechtergerechtigkeit sprechen und den Aspekt von Hautfarbe dabei ausklammern. Deshalb steht auf unserer Homepage, dass wir die Leitprinzipien von Race- und Gendergerechtigkeit anwenden.
Wie ist es an US-Hochschulen um Diversität bestellt?
Viele Studienprogramme in den Vereinigten Staaten legen nicht genug Wert auf Vielfalt. Das liegt daran, dass Highschool- oder Communityprogramme nicht mehr existieren. Eine Mehrheit der weißen Studierenden profitiert von besseren Voraussetzungen, weil sie Schulen in wohlhabenderen Städten durchlaufen haben, in denen besser finanzierte Musikförderprogramme aufgelegt wurden. Es gibt also ungleiche Wettbewerbsbedingungen, auch dieses Verhältnis müssen wir bewerten.
Sie galten als Wunderkind, ihr Talent wurde sehr früh entdeckt. Haben Sie selbst in Ihrer Karriere Diskriminierung erfahren?
Sexismus war immer latent, besonders im Jazz, in dem sowohl weiße als auch Schwarze Männer die Musikerinnen diskriminiert haben und es zum Teil noch heute tun. Die Schnittmenge ist immer noch da, weil die alten Machtverhältnisse noch immer existieren. Noch 2016 nahm mich der Jazzdrummer Max Roach mit zum Manager Bruce Lundvall und bat ihn, dass er mich bei seinem Label Blue Note unter Vertrag nimmt. Lundvall sagte erst zu und am Ende wieder ab. Es fällt mir schwer, diesen Vorfall nicht als sexistisch motiviert zu beurteilen.
Spielen Sie lieber mit Kolleginnen? Ist der Konkurrenzkampf unter Musikerinnen ähnlich ausgeprägt, oder spielt beim Musikmachen Geschlecht keine Rolle?
Ich bevorzuge ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis. Musikalisch, aber auch gesellschaftlich. Wir verbringen viel mehr Zeit jenseits der Bühne als auf der Bühne. Mir wurde klar, dass ich mich im Laufe der Jahre daran gewöhnt hatte, ständig mit Männern unterwegs zu sein. Wenn ich in einem Tourbus gereist bin, habe ich nicht wirklich auf solche Dinge geachtet, aber inzwischen reflektiere ich auch das Backstage-Verhalten.
Haben Sie bei der Zusammenstellung der „New Standards“ bewusst darauf geachtet, dass gleich viele Schwarze und weiße Komponistinnen dabei sind?
Ja, ich habe bis zu einem gewissen Grad auf Gleichberechtigung geachtet, indem ich so viele People of Color wie möglich dabeihaben wollte, darunter auch asiatische Komponistinnen.
War für Sie der Mangel an Diversität durch den Kampf der Frauenbewegung gegen Diskriminierung ausgeräumt?
Ich denke, dass die Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten und der Feminismus im Allgemeinen traditionell sehr weiß geprägt war. Ich selbst hatte gegenüber dem Feminismus gemischte Gefühle. Wenn man sich die Geschichte der Sklaverei anschaut, ist es für die Leute einfacher zu vergessen, dass Schwarze Frauen von weißen Frauen und Männern unterdrückt wurden und keine Kontrolle über ihren Körper hatten. Zwar hat man mehr gelynchte Schwarze Männer an Bäumen hängen sehen als Schwarze Frauen, aber das heißt nicht, dass sie nicht auch ermordet wurden.
Selbst als 1920 das Wahlrecht für Frauen in den USA eingeführt wurde, gab es Schwarze Frauen, die die Suffragetten unterstützten und sich für Gleichberechtigung einsetzten, aber es galt damals nur für weiße Frauen. Schwarze haben in den USA erst 1965 das Wahlrecht erhalten. Ich will damit nur sagen, dass es eine komplizierte Geschichte gibt, mit Race und Gender und all diesen Dingen. Aus meiner Sicht ist Intersektionalität bei dem Thema wichtig, und ich versuche, die Gleichberechtigung im Jazz immer im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu betrachten, nicht nur als eine isolierte Sache im männlich dominierten Musikbiz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden