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■ Japan hat schon wieder einen neuen RegierungschefEin großes freies Feld...

Wer hätte gedacht, daß ein Sozialdemokrat in Japan noch einmal Premierminister werden würde? Doch die Demokratie ist unberechenbar, zumal dann, wenn Volksvertreter ihr Gewissen entdecken. Die Wahl des sozialdemokratischen Parteichefs Tomiichi Murayama zum neuen japanischen Regierungschef war deshalb nicht nur eine große Überraschung, sie verwandelte Japans ohnehin ungeordnete Parteienlandschaft am Mittwoch in ein großes freies Feld, auf dem sich jeder Abgeordnete neu positionieren mußte.

Alles sieht nach einem Sieg der alten Kräfte aus. Doch scheint es eher einem Einfrieren der Reformkräfte zu ähneln. Der Regierungswechsel unter Murayama wird als sichtbarstes Ergebnis die Liberaldemokratische Partei (LDP) zurück in die Regierung bringen. Seit einem Jahr kämpfte die größte Oppositionspartei mit allen Mitteln um die Rückkehr an die Macht, die sie nach 38 Jahren ununterbrochener Einparteienherrschaft aufgrund ihrer Wahlniederlage im Sommer 1993 abgeben mußte. Doch es ist nicht mehr die gleiche LDP, die sich gestern mit ihrem jahrzehntelangen politischen Gegner, den Sozialdemokraten, verbündete, um erneut die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Früher wußte diese Partei nicht nur Bauern, Kleinunternehmer und Pensionäre hinter sich, sie genoß die exklusive Unterstützung des Großkapitals und dirigierte die mächtige Ministerialbürokratie nach eigenem Belieben. Dieses alte Machtkartell – genannt „das eiserne Dreieck“ aus LDP, Großkapital und Bürokratie – ist inzwischen ein für allemal zerbrochen. Seit gestern ist aber auch klar, daß die Japaner so weit wie Ex-Premier Hata etwa in UNO- Blauhelm-Fragen noch nicht gehen wollen. Liberal- und Sozialdemokraten, jene Erzrivalen aus der Zeit des Kalten Krieges, verbindet heute in Japan ein alter Verfassungspatriotismus. Der Verzicht auf jedes militärische Engagement im Ausland gehört dazu.

Die gestrige Abstimmung hat den demokratischen Erneuerungsprozeß in Japan dennoch einen großen Schritt weiter gebracht: Erstmals stimmten die Abgeordneten in zwei neuen großen Lagern ab, welche die Kluft des Kalten Krieges überwanden. Tatsächlich hätten die ideologischen Grundmuster der alten Zeit Sozial- und Liberaldemokraten jegliche Zusammenarbeit verboten. Damit versprechen die nächsten Parlamentswahlen, die aller Voraussicht nach innerhalb von sechs Monaten folgen werden, eine unerhörte Spannung. Denn alles, was die beiden großen Lager nun trennt – Verfassungsloyalität, Wirtschafts- und Außenpolitik –, waren in Japan im praktisch politischen Sinne bisher Tabuthemen, die von den Parteien allenfalls ideologisch abgehandelt wurden. Das wird nun nicht mehr reichen. Georg Blume, Tokio

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