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Jan-Paul Koopmann SpeckgürtelpunksGanz konkrete Penistomaten

Foto: privat

Manchmal stolpert man über Wörter von früher und wundert sich, weil sie einem plötzlich als Fremdsprache begegnen. Über mein einstiges Lieblingswort „hitzefrei“ etwa hatte ich 20 Jahre nicht nachgedacht, bis ich selbst Kinder in der Schule hatte. Oder vielmehr, bis sie plötzlich im Homeoffice randalierten, weil die Schule mal wieder temperaturbedingt ausfiel. „Inzidenz“ ist auch so ein Dauerwort von neulich, das mir schon wieder fremd wurde. Das vielleicht beste Beispiel ist „Konkretionswahn“.

Wir haben das Wort früher sehr viel gebraucht. Es war nützlich, um einen Zustand benennen zu können, der mir und vielen meiner Freun­d:in­nen so allgegenwärtig wie begriffslos um die Ohren flog. Es beschreibt den gefährlichen Denkfehler, die abstrakten Zwänge und Gemeinheiten des Kapitalismus zu personalisieren. Irgendwann merkt man das und versucht dann möglichst, es zu lassen. Oder man begreift, dass es sich dabei um keine private Blödheit handelt, sondern um die ideologische Basis weiter Teile des eigenen Umfelds. Und wenn man dann noch bei zum Beispiel Gerhard Scheit liest, wie schnell diese geistigen Kurzschlüsse beim Antisemitismus landen, ist das schon ein guter Grund, das Wort „Konkretionswahn“ oft zu benutzen.

Dass es mir gestern beim beiläufigen Lesen erst nach Jahren wieder begegnet ist, hat nichts damit zu tun, dass die Sache nicht mehr stimmen würde. Ich habe nur erstens – wie an dieser Stelle neulich schon erwähnt – beim Umzug aufs Land die Theoriezirkel nicht mitnehmen können. Und zweitens hatte ich zuletzt auch eher mit Leuten zu tun, denen gerade das Abstrakte zu Kopf gestiegen war. Mit Leuten, die sich dermaßen auf die Bewegungsgesetze der garstigen Welt fokussieren, dass sie konkrete Miss­stände und Aus­beu­te­r:in­nen gar nicht mehr erkennen, wenn sie ihnen direkt gegenüberstehen. Selbst die schlimmsten Schur­k:in­nen gehen dann irgendwann auf in einer wabernden Idee: als willen- und schuldlose Agenten der Gesamtscheiße. Was ja auch gar nicht falsch ist, aber eben nur die halbe Geschichte.

Eigentlich wollte ich hier gar nicht davon anfangen. Weil das eben keine Geschichte zwischen Stadt und Land zu sein schien, denen dieser Platz ja nun gewidmet ist. Aber jetzt wurde mir klar: Es ist doch eine.

Aufgefallen ist mir das bei einem Gärtner um die Ecke, bei dem es Tomatenpflanzen zu kaufen gibt, deren Früchte man nicht essen darf. Das steht jedenfalls drauf. Sie sind gelabelt als „Zierpflanzen“ oder „Sammlerobjekte“. Der auf einem Aushang wortreich verfluchte Hintergrund ist, dass diese vorwiegend alten Sorten keine Zulassung haben. So was zu besorgen, heißt es, sei für einzelne Pflanzen kaum zu bewerkstelligen. Auf diesem Hof stehen Hunderte in zwei Gewächshäusern.

Statt Zulassung haben die Tomaten immerhin tolle Namen: „Rebel Starfighter Prime“ heißt eine dunkelrote Salattomate, die Flaschentomate aus der DDR daneben „Alter Kommunist“. Eine Fleischtomate „RAF“ gibt’s auch – und mein persönliches Lieblingsexemplar: die „Penistomate“. Wie gesagt: Alles nicht zum Verzehr geeignet, aber sehr lecker.

Meine Nachbarschaft kennt diesen Laden seit Jahren gut und weiß neben den Pflanzen auch die Kritik durchaus zu schätzen. Man schlägt sich hier draußen öfter mit so was rum. Meine Freun­d:in­nen aus der Stadt hingegen sind aus allen Wolken gefallen. Manche wurden richtig sauer, was „denen“ denn einfällt, einem so ans Gemüse zu gehen. Die Aufregung ist groß, plötzlich will man Open-Source-Tomaten kaufen und Petitionen zeichnen. Und mir selbst geht’s da übrigens auch nicht anders.

Man kauft Open-Source-Tomaten und zeichnet Petitionen

Dabei ist nichts davon neu. Über Hybridsaat, Wettbewerbsdruck, Welthunger und eben die Bewegungsgesetze des Kapitals ist alles gesagt. Und trotzdem tut sie irgendwie ganz gut, diese konkrete Erfahrung eines – im Weltmaßstab – vielleicht doch eher nebensächlichen Problemchens.

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