Jahrgangsübergreifendes Lernen: Aus zwei mach eins
Viele Schulanfänger kommen heute gar nicht in die erste Klasse. Sie werden mit Zweitklässlern gemeinsam unterrichtet. Viele LehrerInnen sehen das skeptisch.
Für 25.000 Berliner Kinder startet heute eine neue Lebensphase: Der Beginn ihres Schülerdaseins wird an den Grundschulen mit Einschulungsfeiern eröffnet. Fünf bis sechs Jahre alt sind die ErstklässlerInnen seit der Vorverlegung des Einschulungsalters vor zwei Jahren. Und für fast die Hälfte der Abc-Schützen tritt noch eine wichtige, mit dem neuen Schulgesetz von 2004 beschlossene Neuregelung in Kraft: Für sie gibt es jetzt JÜL in der SAPH. Hinter diesen Kürzeln verbirgt sich aber kein skandinavischer Weihnachtsbrauch - sie stehen für "jahrgangsübergreifendes Lernen in der Schulanfangsphase". Einfach gesagt: Schülerinnen und Schüler der ersten und zweiten Klassen werden gemeinsam unterrichtet.
176 der 396 Berliner Grundschulen haben die Reform bereits umgesetzt - im vergangenen Schuljahr waren es erst 74. Die übrigen haben noch ein Jahr Zeit, deren Beispiel zu folgen.
Nicht alle tun das gern. Dass die Reform langsamer vonstatten geht als geplant, hat den Senat im Dezember vergangenen Jahres dazu bewogen, den Pflichttermin für den Einstieg in das neue Lernmodell um ein Jahr auf den Schuljahresbeginn 2008/09 zu verschieben. Damit werde, hieß es in dem entsprechenden Rundschreiben in umständlichem Beamtendeutsch, "den Wünschen von Schulen entsprochen, die in ihren Vorbereitungen auf die Realisierung der Jahrgangsmischung noch nicht weit genug fortgeschritten sind". Man habe Verständnis, wenn Schulen für die Einführung der jahrgangsübergreifenden Klassen mehr Zeit brauchten, sagt Kenneth Frisse, Sprecher der Senatsbildungsverwaltung. Für die Verlängerung der Frist genügte deshalb ein einfacher Antrag mit dem Hinweis auf einen entsprechenden Beschluss der Schulkonferenz - eine Begründung verlangte der Senat nicht.
Es sei zum einen die "Angst vor der großen Herausforderung für die Lehrkräfte", die Schulen vom Anpacken der Reform abhalte, sagt Erhard Laube, Leiter einer Schöneberger Grundschule und Vorsitzender des Schulleiterverbandes der Berliner Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Das jahrgangsübergreifende Unterrichten erfordere ein "viel höheres Ausmaß an Arbeit". "Eigentlich muss man dabei zwei Lehrkräfte in der Klasse haben", sagt Laube. Das erlaube die Personalausstattung der meisten Schulen aber nicht. Außerdem gebe es große Skepsis, ob das jahrgangsübergreifende Lernen, bei dem Kinder stärker selbstständig und voneinander lernen sollen, auch in Schulen an sozialen Brennpunkten klappen kann. "Untersuchungen und Modellprojekte haben zwar gezeigt, dass Mittelschichtskinder von der Lernform profitieren", so Laube. Ob sie aber auch für Kinder aus bildungsfernen Schichten geeignet sei, sei eine bislang offene Frage.
Christel Kottmann-Mentz, Leiterin der deutsch-türkischen Aziz-Nesin-Europagrundschule in Kreuzberg, teilt Laubes Bedenken: "Gerade an Schulen in armen Bezirken müssen Lehrkräfte auf den Unterricht oft stark inhaltlich Einfluss nehmen, die Kinder stark unterstützen." Wie ihr Schöneberger Kollege hat sie sich trotzdem für das jahrgangsübergreifende Konzept entschieden. Ob es klappt, wird man in frühstens einem Jahr sehen.
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