: Jagd nach verstecktem Gold
Berlin ist Europas Plattenhauptstadt, ein echtes Eldorado der Vinylfetischisten. Einer, der es wissen muss, weil er selbst zu den Sammlern gehört, ist über Flohmärkte und durch Plattenläden geschweift. Verspottetes Spezialwissen bringt hier die Miete ein
VON ANDREAS HARTMANN
Die Platte hat ein rotes Cover, „Bob Dylan“ steht darauf, es ist das „Freewheelin‘“-Album in einer DDR-Amiga-Pressung. Wer ahnungslos so etwas auf dem Flohmarkt findet, blättert schon mal einfach weiter, ein Kenner dagegen würde Herzrasen bekommen. „1.000 Euro“ – Gerhard Machate, Betreiber des Friedrichshainer Plattenladens „O-Ton“, der sich auf Jazz und Ostmusik spezialisiert hat, zeigt zum Beweis auf den Preisaufkleber – 1.000 Euro soll das gute Stück kosten. Bei E-Bay erfährt man, dass vor kurzem tatsächlich jemand bei einer Auktion fast 800 Euro für das runde Schwarze in einem Stück roter Pappe hingeblättert hat.
Täglich finden in Berlin Wohnungsauflösungen statt, bei Umzügen werden ganze Sammlungen aus der alten Wohnung getragen. Oder jemand will Ballast loswerden, weil er gar keinen Plattenspieler mehr besitzt. Stets sind sofort die Händler da, die von genau dieser Bob-Dylan-Platte träumen. Und sie erhoffen sich Platten von Stockhausen, von obskuren Krautrockbands, sie fahnden nach limitierten Fanclub-Pressungen, gesuchten Italo-Disco-Schmankerln, Sonderauflagen, Originalpressungen, nach all dem halt, was die Plattensammler da draußen brauchen wie der Junkie seinen Stoff.
Der Vinylnarr lebt
Denn die Musikindustrie mag zwar am Ende sein, die CD tot, und Computerspiele mögen heute eine größere kulturelle Bedeutung haben als Popmusik, aber das Plattensammeln, das betrieben wird wie eine Religion, das Graben nach schwarzem Gold, das einem wichtiger ist als das Geld für den nächsten Urlaub, das alles gibt es nach wie vor. Nick Hornbys Beschreibung des Vinylnarren, der sein Leben nach seiner Sammlung ausrichtet, ist auch heute noch aktuell. Ich muss es wissen, ich bin einer von ihnen.
Viel war in der letzten Zeit die Rede davon, dass es zunehmend nur noch zwei Sorten von Musikkonsumenten gebe. Diejenigen, die nur noch alles auf ihre Festplatten saugen, und die letzten Bewahrer der Tonträgerkultur. Letztere wollten eben gerade jetzt, wo um sie herum sich alles ins Virtuelle verflüssigt, wieder so richtig was in der Hand halten, mit großem Cover, am besten ein Doppelvinyl im Klappcover, 180-Gramm-Pressung.
Die Wahrheit ist: Die CD spielt auf den Plattenmärkten so gut wie gar keine Rolle, Vinyl ist Fetisch, CD ist Sondermüll. Auch das zeigt, dass dem kleinen Silberling die Zukunft davonläuft. Die nimmersatten Jäger und Sammler – also wir – drücken sich, immer Ausschau haltend, andauernd in An-und-Verkauf-Läden herum oder auf Flohmärkten. Letztere finden auch den ganzen Winter über statt. Aber nicht, weil in der Eiseskälte ein paar Studenten ihren Krempel verkaufen und andere Studenten sich Schnäppchen erhoffen, sondern wegen uns, weil auf den zig Plattenständen auch bei Eiseskälte die Kundschaft Schlange steht, um zu schauen, ob mal wieder was dabei ist, vielleicht sogar mit etwas Glück diese rote Bob-Dylan-Platte. Ein toller Fund wärmt dann besser als jeder Glühwein.
Berlin ist Europas Plattenhauptstadt. In London mag immer noch heiße Ware aufzutreiben sein, aber zu Pfundpreisen, die so überhöht sind wie die Londoner Mietpreise. Berlin dagegen ist billig und die Ware ist gut. „Es gibt hier alles, englische Pressungen genauso wie deutsche Pressungen“, erklärt Hans Joachim Koppitsch vom Kreuzberger Second-Hand-Plattenladen „Heiße Scheiben“. Man bekommt also nicht bloß die qualitativ meist minderwertigeren Ostpressungen, wie man sie in den preislich auch noch nicht so überhitzten Plattenumsatzmärkten wie Warschau oder Prag findet. Und es gibt halt überhaupt noch was.
Paris ist tot, London teuer
Mathieu, der begeistert im „O-Ton“ nach Punk- und Postpunk-Platten fahndet, ist ein von Frankreich nach Berlin gezogener Fotograf. Paris sei tot, meint er. Alles werde dort sofort auf E-Bay gestellt, die Second-Hand-Plattenläden seien leer gefegt.
„Das größte Geschäft machen wir mit den Touristen, 75 Prozent des Umsatzes macht das aus. Ohne die Touristen würde es gar nicht gehen“, erklärt einer der Händler vom Mauerpark. Eigentlich ist er selbständiger Software-Entwickler, seit ein paar Jahren jedoch ohne Arbeit, nun lebt er davon, Woche für Woche Platten, teils noch aus seiner eigenen Sammlung, auf dem Flohmarkt zu verhökern. Hartz IV bräuchte er nicht, er komme auch so über die Runden. Seine gelernten Fähigkeiten sind auf dem eigentlichen Arbeitsmarkt nicht gefragt, sein manchmal als Nerdtum verspottetes Spezialwissen um bestimmte Originalpressungen dödeliger Beat- oder Punkbands bringt ihm nun die Miete ein.
Auch Martin Wimesdorffer, der jeden Sonntag auf dem Flohmarkt auf dem Boxhagener Platz sein Vinyl anbietet, kommt ohne Arbeitslosengeld aus. Er hat sich spezialisiert. Auf Metal und Klassik. „Diese Kombination können viele nicht nachvollziehen, aber der Kenner weiß, dass Metal und Klassik vieles gemeinsam haben, etwa die Wertschätzung von Virtuosität.“ Der Aspekt der Spezialisierung ist wichtig, um zu verstehen, wie der Berliner Plattenmarkt funktioniert. Sein Grundprinzip ist die Verschiebung. Zuerst landet die Platte beim An- und Verkäufer, für die, so Thomas Ulmer, der im „O-Ton“ regelmäßig aushilft, „eine Boney-M-Platte so wertvoll ist wie eine potenzielle 50-Euro-Platte“. Vom An- und Verkauf gelangt das runde Schwarze zum Second-Hand-Plattenhändler, der meist alles – „von Abba bis Zappa“ – im Laden stehen hat. Dann greift der Spezialist zu, der wirklich weiß, was die Platte wert ist und ein Kunde bereit sein könnte, für sie zahlen. So ungefähr funktioniert ein recht üblicher Vinyl-Kreislauf in Berlin; auch ein Preisanstieg von Kiez zu Kiez ist möglich, bestimmte Platten kosten in der Kastanianallee mit all den Touristen einfach mehr als irgendwo in Kreuzberg.
Spezialisten tauschen
Gerhard Machate, ein Experte für Ostmusik, beschreibt: „Der Händler aus Warschau kommt zu mir an den Flohmarktstand, den ich neben dem Laden am Sonntag betreibe. Mit zwei Plastiktüten voller Platten. Dann wird getauscht. Ich bekomme etwa den polnischen Jazz und er den Rock. Die Polen wollen meist Progressive-Rock und Punk, die Russen wollen Metal.“
Spezialisierung ist auch das Geheimnis von Martin Rieser, der mit dem „Audio-In“ in Friedrichshain einen Laden für gebrauchtes Techno-Vinyl betreibt. Mit Techno können die meisten Händler, die eher Rock- und Punk-sozialisiert sind, nicht so viel anfangen. Doch was für sie wertlos ist, kann für Rieser schon wieder Gold sein. Pressungen des Labels Transmat holt sich Rieser mit Kusshand, andere können nichts damit anfangen.
Beliebter als das Weiterreichen unter Händlern ist freilich der direkte Fund eines Nuggets, der für den Preis eines Kieselsteins angeboten wird. Beim Trödler, zwischen zwei Heino-Platten: überall kann sie stecken, die goldene Schallplatte mit einer Gewinnspanne so hoch wie ein Lottogewinn. Deswegen spielen sich frühmorgens, wenn in den Sommermonaten die erste Studenten ihren Ramsch auspacken, wozu oft auch ein Stapel Platten gehört, immer diese erschütternden Szenen ab. „Viele der Händler nagen am Hungertuch, bei denen ist es richtig existenziell, deswegen wird es gerne mal physisch, wenn es darum geht, der Erste an der Plattenkiste eines Studenten zu sein“, sagt Thomas Ulmer, der zugibt, selbst schon ein paar Mal nach Schubsereien kurz vor einer körperlichen Antwort gestanden zu sein.
Seit Vinyl wieder boomt, wird auf dem Berliner Plattenmarkt mit härteren Bandagen gekämpft. Marco Bosch hat auch deswegen gerade seinen Friedrichshainer Laden „Vinylamt“ geschlossen. Seit manche Platten jede Menge Geld bringen können, ziehen die Preise generell so an, dass sich für ihn das Geschäft nicht mehr lohnt. Seine Bestände verkauft er jetzt erst mal im Internet. Über E-Bay.