JUGENDFREIE SCHLEPPERFILME: Der utopische Vorschein
■ Heute: »Zeit des Erwachens II — In der Martini-Klinik«
Der große Heulerfolg im ersten Kinoquartal 1991 ist unbestritten Zeit des Erwachens aus der Filmreihe »Krankheiten, von denen Sie garantiert noch nie etwas gehört haben«. Wir sehen Robert De Niro rammdösig durch den Film wandeln, denn als diagnostizierter Postenzephalitiker steht er quasi unmittelbar vor dem finalen Koma, wacht aber noch mal kurzfristig auf, um schließlich um so eindrucksvoller zu sterben — rote Zuschaueraugen sind im Preis inbegriffen.
»Zeit des Erwachens II — In der Martini-Klinik« von Lenny Marshall knüpft nahtlos an die narkotisierende Schlafstruktur des ersten Teils an. Gleich der erste Kameraschwenk zeigt erschütternd bis bestürzend wirkende Bilder der unaussprechlichen Schlafkrankheit. Junge gutgekämmte Menschen mit Aussicht auf glänzende Karrieren und abbezahlte Eigenheime liegen am sonnenüberfluteten Swimming Pool, doch die Badehosen- und Bikini-Idylle trügt. Das postenzephalitische Schicksal ist zurückgekehrt und hat die Bräunungsstudio-Avantgarde mit dumpfer Dauerapathie überzogen. Bleierne Dösköppe liegen komatös überwältigt und hoffnungslos entschlummert um das menschenleere Schwimmbassin. Die gnadenlosen Strahlen der Mittagssonne versengen die ungeschützte Haut der teilnahmslos dahindämmernden Körper. Verheerende Sonnenbrände breiten sich aus. Hier merkt keiner mehr was.
Regisseur Lenny Marshall hat dieses Ausgeliefertsein an Sonne und Schlaf auf der ästhetischen Ebene umgesetzt mit einer gefängnisähnlichen Szenerie und einer hermetischen Konstruktion der Bildmontage. Wenn die Kamera die regungslos ratzenden Körper abschwenkt, ist immer auch eine weiße Mauer im Hintergrund zu sehen, selbst die Zwischenschnitte, die die Kamerafahrt unterbrechen, zeigen die allgegenwärtige Mauer. Hier kommt keiner lebend raus, scheinen uns die Bilder zuzurufen.
Doch auf dem Höhepunkt des klaustrophobischen Soges kommt eine Sonnenuhr ins Bild — altes Symbol von Hoffnung und Heiterkeit. »Mach es wie die Sonnenuhr — zähl die heitren Stunden nur«, Schlag zwölf sind alle wach, man räkelt sich, lächelt einander zu, Ute läßt zwei Hände voll Wasser über ihre Schenkel perlen, Katrin springt ins Wasser, und Thomas schnappt sich ein Glas. 12 Uhr — Zeit der Selbstmedikamentierung. Dem tragischen Ausgang von »Zeit des Erwachens I« setzt Regisseur Marshall im zweiten Teil bewußt einen Hoffnungsschimmer entgegen. Doktor Martini, der den ganzen Film unsichtbar bleibt, bietet den Patienten in seiner Klinik einen Adrenalin-Speed-Hammer, der alle Müdigkeit wegpustet. Die Medikamenteneinnahme feiert der Film als frohes Fest sympathischer Bilder. Und wieder weint das Publikum, aber diesmal sind es Freudentränen. Mit dieser Mischung aus Magie und Magenbitter, Trost und Trinkritual gelingt Marshall der »utopische Vorschein« (Bloch) auf eine trinkfreudige Welt und reiht sich ein in die großen Alkoholklassiker wie »Bacardi Crusoe« und »Der Underberg ruft«. Volker Gunske
»Zeit des Erwachens II — In der Martini-Klinik«, Italien 1991, 85 Sekunden. Zur Zeit im Kino.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen