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Archiv-Artikel

JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE Vor der Rückkehr zum Staub

Betr. Prioritäten 2005: Entwurf für einen Antrag auf bezahlten Urlaub bis auf weiteres

Hey Boss.(Anrede noch verfeinern)

Ich schreibe Ihnen heute aus meinem Bedauern darüber heraus, dass ich mich auf jetzt noch kaum absehbare Zeit nicht in der Lage sehe, meinen Ihnen gegenüber eingegangenen Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen. Um ehrlich zu sein könnte es auf gar keinen Umfang hinauslaufen. Da fand ich es nur fair, Sie über die Hintergründe in Kenntnis zu setzen.

Ich bin dieser Tage aus zweierlei Anlässen wieder einmal ins Nachdenken über Vergänglichkeit, Zeitverflug etc. gekommen. Witzigerweise haben beide Anlässe zu tun mit Männern, die Bedeutungsschweres murmelnd an meinem Kopf herumfummeln. Ich schreibe diese Zeilen, da liegt der Karneval in seinen letzten, höhö, Umzügen (ja, ich war auf einem Remmidemmi gestern, denn ich halte zwar wenig davon, auf Kommando lustig zu sein, nur weil Fasching ist, aber noch weit weniger davon, auf Kommando nicht lustig zu sein, nur weil Fasching ist), und ich erinnere mich meines katholischen Aufwachsens und der Worte des Pfarrers am Aschermittwoch, wenn er einem das Aschekreuz auf die Stirn rieb: „Bedenke, oh Mensch, dass du Staub bist und zum Staube zurückkehrst.“ Der andere Mann sagt „Aber langfristig halt mal umdenken, ne?“; das ist mein Friseur, letzte Woche in Kontemplation meines Frisurwunsches bei Begutachtung meines schwindenden Deckhaares.

Fragen Sie mich übrigens nicht, warum mich letztere Ansage tiefer erschüttert als die erste. Das hat wohl etwas mit Verdrängung zu tun. Das würde ja auch nicht gehen, dreimal stündlich von der Einsicht überrollt zu werden, dass man sich eher früher als später in seine Molekülketten auflösen respektive zum Staube zurückkehren wird. Man würde ja durchdrehen. Dreimal stündlich von der Einsicht überrollt zu werden, dass man, wenn das so weitergeht mit den Haaren, bald aussehen wird wie Zinedine Zidane (also obenrum), geht dafür recht problemlos.

Doch zur Sache. Ich möchte Ihnen nicht esoterisch kommen, von wegen „carpe diem“ et al. Doch blieb mir nach gewissenhafter Prüfung meiner Zeitkonten nur der eine Schluss: Ich kann einer Tätigkeit im Sinne von Arbeit derzeit keine Priorität einräumen. Ja, es gibt Organisationstalente, die Arbeit und Wichtiges unter einen Hut bekommen. Ich gehöre nicht dazu und muss daraus meine Konsequenzen ziehen.

Das geht schon los bei den Zeitungen. Die Leute, die die machen, geben sich ja Mühe und würden sich schön bedanken, wenn sie wüssten, dass ich momentan meine zwei Abozeitungen zu 90 Prozent ungelesen wegschmeiße. Das geht weiter bei Büchern. Ständig Neuerscheinungen und zu Hause stapeln sich die ungelesenen Klassiker. Und kistenweise ungehörte Platten. Dann die Künste! Ich sag es gern so: Das würde ganze Bibliotheken füllen, was ich über Kunst noch nicht weiß. Und Interessantes im Kino, im Fernsehen, im Radio. Ach, und die Natur. Erst in den letzten Tagen musste ich so viel umdisponieren, weil Spaziergänge in der Schneepracht notwendig wurden; was da Arbeit liegen geblieben ist, Sie machen sich keine Vorstellung. Und jetzt kommt das Frühjahr, ausgedehnte Wanderungen stehen an.

Dazwischen das Herumdaddeln. Bastelstunden. Badewannenliegen. Familienbelange. Und Freundschaften wollen gepflegt sein. Und dann kommt es zu Trinkunfällen und man ist einfach nicht sofort wieder so auf dem Damm wie früher. Sie sehen selbst: Das ist so alles kein Zustand mehr. Daher hiermit mein Antrag auf unbefristeten Urlaub. Praktischerweise kann ich auf eine vor Zeiten abgeschlossene Arbeitsunwilligkeitsversicherung zurückgreifen. Knappe 50 Prozent meines Unterhalts sind dadurch abgedeckt, den Rest bitte ich Sie freundlichst durch eine milde Lohnfortzahlung zu übernehmen. So viel ist es eh nicht, das wissen Sie so gut wie ich. Wie sagt man so schön: Rufen Sie mich nicht an, ich rufe Sie an, sollte ich Kapazitäten haben. Ich bedanke mich im Voraus und verbleibe bis auf weiteres mit freundlichem Gruß

Fragen an den Chef? kolumne@taz.de Morgen: Kirsten Fuchs über KLEIDER