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Archiv-Artikel

JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE Daheim verrohen die Leut’

Münchner Jugendliche kosen sich „Missgeburt“, bei uns im Chiemgau sind sie schon einen Schritt weiter hinten

Ich muss noch einmal zurück ins Büro radeln, weil ich mein Notizbuch, in dem hoffentlich diese Kolumne steht, dort vergessen habe. Auf dem Fahrradweg steht ein junger Mann in Sporthose, einen Ball unterm Arm und blökt in sein Handy. Er nennt seinen Gesprächspartner „Missgeburt“. Die jungen Leute nennen sich jetzt offenbar „Missgeburt“, in aller Jovialität. Ich find’s spontan voll daneben und möchte dem Typen aus Strafe im Vorbeifahren so „Zack!“ den Ball wegtreten, aber Entschuldigung, man macht sich ja weiß Gott schon genug zum Idioten.

In dem Notizbuch steht: „Die verrohte Jugend steht am Bahnhof in Trostberg. Sie nimmt den Regionalexpress 3281 nach München und geht in den Kunstpark Ost, um dort weiter zu verrohen.“ Es war uns ein wenig makaber zumute, vorgestern, und wir haben überall nur noch rohe Jugendliche gesehen. Wir selber sind ja schon so alt, stellen wir uns vor, dass für uns nicht mehr so viel Verrohungsgefahr besteht. Aber bei der Jugend ist da noch einiges drin. Die hat Reserven. Seit zwei Wochen ist das Eck bei uns daheim im Chiemgau im ganzen Land bekannt, weil eine Gruppe hiesiger Kleinstadtkids einen neuen Referenzfall in puncto Jugendverrohung gestellt hat. Die Alkoholisierten hatten nachts im Wald die bei weitem nicht mehr frische Leiche eines Selbstmörders gefunden und in der Folge gewalttätige, rohe, in der Tat abgründige Dinge damit angestellt. Zwei Tage später flogen sie auf und in der SZ wurde mein alter Französischlehrer zitiert, der gleich klarstellte, das seien nicht seine Schüler, die so etwas tun.

Nein, eh klar. Die Schüler vom Französischlehrer lesen in ihrer Freizeit Camus und kochen Raffiniertes mit Freunden, die g’scherten Hauptschüler saufen im Wald rum und schlagen Leichen matschig. Das muss man sich mal vorstellen, wie’s da zugeht! Dabei haben sie jetzt schon extra die Handys auf den Schulhöfen verboten, und immer noch so ein Zugang wie bei den Wilden. „Wir sind auch einmal aufgewachsen“, sagt vielleicht einer, „und wir haben nicht hergehen müssen und eine Leiche schänden. Weil wir noch eine Wertvorstellung gehabt haben!“ Wir in der Abendsonne am Bahnhof, wo mein Freund Helmut wohnt, wir sagen das nicht, denn selbstverständlich sind uns Stammtischparolen fremd.

Wir machen stattdessen Presseschau. Man muss sagen: Der Chiemgau schafft es nicht aus den Schlagzeilen im Moment, vor allem nicht aus den reißerischen der Heimatzeitung. „Leiche gibt Rätsel auf“ steht da. Wie jetzt? „Ekel-Schock bei Jauch: Leiche gibt Rätsel auf“? Jaja, lustig. Nix, das ist die Ausgabe von vor zwei Wochen, als sie die entstellte Leiche gefunden haben, bei den Schrebergärten. Da hat sie noch Rätsel aufgegeben, weil ja niemand ahnte, wie weit bei uns die Jugend schon verroht ist.

Der Fall hat der Zeitung, wie man hört, hübsche Auflagenzuwächse beschert. Und der Chef- und Schlagzeilenredakteur weiß wohl nicht erst seitdem, aber jetzt noch genauer, wo’s langgeht. Die heutige Aufmacherschlagzeile lautet: „Leichenteile im Chiemgau verteilt“. Das hat jetzt mal nichts mit unserer verrohten Landjugend zu tun, vielmehr bezieht es sich auf einen Vorfall aus einer Zeit, in der die richtig plakativen Rohheiten noch aus der großen Stadt zu uns gekommen sind, wie es sich gehört. Münchner Mörder hatten zur Spurenverwischung (sie sind längst gefasst) mit ihrer zerstückelten Leiche eine Landpartie unternommen, ausgerechnet zu uns raus, und da und dort was deponiert.

Das ist über ein Jahr her, aber jetzt ist Prozessauftakt, und da kann man schon noch mal „Leichenteile im Chiemgau verteilt“ hinschreiben, gescheit groß, damit die Frühstückssemmeln in den Hälsen der sensibilisierten Leserschaft stecken bleiben, weil jetzt schon wieder was passiert ist. Es ist aber gar nichts Neues passiert. Und wo der eine Fuß der verteilten Leiche steckt, der immer noch, tja, abgängig sein soll: das möchte man momentan eigentlich gar nicht so genau wissen.

P.S.: Ganz was anders. Bitte mal gehen zu www.zuendfunk-retten.de. Danke.

Verrohte Kosenamen? kolumne@taz.de Morgen: Jan Feddersen PARALLELGESELLSCHAFT