JENSEITS VON AFGHANISTAN: DIE USA DENKEN AN NEUE KRIEGSZIELE: Aus Schurken werden Terroristen
Die uneingeschränkt solidarischen Verbündeten reagieren nervös auf die Offenheit aus Washington. Bundeskanzler Schröder warnte gestern im Bundestag vor der Diskussion über neue Ziele im so genannten Anti-Terror-Krieg. Und der britische Premier Tony Blair ließ verkünden, es sei nicht hilfreich, über neue Ziele zu spekulieren. Eine kategorische Absage an Angriffe auf weitere Länder sind diese Worte aus Berlin und London nicht. Allenfalls lässt sich aus ihnen die dezente Bitte an die US-Regierung ableiten, doch nicht so laut über künftige Angriffe auf Irak oder Somalia nachzudenken.
Man mag der Bush-Regierung zuweilen einen undiplomatischen Stil vorwerfen, doch so ungeschickt, wie Blair und Schröder unterstellen, ist sie nicht. Es ist eher unwahrscheinlich, dass der US-Präsident in den nächsten Wochen einen weiteren Kriegsschauplatz eröffnen lässt. Ein Großangriff auf Irak oder Somalia würde die Kriegführung in Afghanistan zurzeit nur erschweren.
Tatsächlich geht es der Bush-Regierung um ein langfristiges Ziel: Die derzeit von nahezu allen Regierungen der Welt als Legitimation für Kriege akzeptierte Formel vom „Kampf gegen den Terror“ soll erweitert werden. Immer häufiger deuten die USA deshalb eine Verbindung mit dem militärischen Vorgehen gegen Staaten an, die angeblich oder tatsächlich atomare, chemische oder biologische Waffen besitzen – und den USA feindlich gesinnt sind. Präsident George W. Bush nennt Länder, die „Massenvernichtungswaffen herstellen, um damit andere zu terrorisieren“, jetzt in einem Atemzug mit Ländern, die „Terroristen beherbergen“.
Das ist eine Zäsur. Denn eine Verbindung zu den Attentaten vom 11. September ist damit nicht mehr Bedingung für US-Angriffe. Faktisch handelt es sich um eine Wiederauflage der vergessen geglaubten Schurkendoktrin, die der weltweiten Präsenz des US-Militärs nach dem Wegfall des Feindes Sowjetunion eine neue Begründung geben sollte. Das von den Regierungen der europäischen Nato-Staaten immer mit Skepsis betrachtete Konzept von den „Schurkenstaaten“ soll offenbar durch das der „Terrorstaaten“ ersetzt werden. Der „Krieg gegen den Terror“ wird zur Metapher, um ein weiter gefasstes Bedrohungsszenario aufzubauen. Bei den von Bush und Schröder kritisierten Spekulationen über neue Ziele geht es also um mehr als die aktuelle Kriegsplanung, es geht um die Durchsetzung einer neuen Doktrin, mit der US-Interventionen in immer unklarer definierten „Terrorstaaten“ legitimiert werden sollen. ERIC CHAUVISTRÉ
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