JENNI ZYLKA über PEST & CHOLERA : Wer war noch gleich Bulli Baermann?
Leider vergisst man immer, wie viele Menschen man vergisst. Zum Glück gibt es digitale Adressbücher
Das Wochenende habe ich damit verbracht, Namen und Adressen aus meinem alten Computer in meinen neuen zu übertragen. Ein dreckiger Job, aber eine muss ihn machen, und wenn man gleich das ganze System wechselt, gibt keine andere Möglichkeit als das „händische“ Umschreiben, wie der Österreicher sagt. Unterbrochen wurde ich ab und an von dem Filmteam, das seit einer Woche unter meinem Fenster eine Folge einer RTL-Polizeiserie dreht, eine Folge, die vermutlich „Erster Mai“ heißt – alle fünf Minuten hörte ich einen Haufen RTL-Autonome „Zicke zacke hau hau hau, wir hauen euch die Fresse blau“ oder Ähnliches skandieren, wenn ich aus dem Fenster schaute, konnte ich sehen, wie Komparsen mit bunten Self-Made-Strähnchen an einer Polizeiwanne wackelten, darüber schwebte das Mikrofon an seiner Angel wie ein haariger Mond, und drum herum sprangen geschäftig ein Kameramann und seine Kabelhilfe.
Es dauerte ganz schön lange, bis die Szene im Kasten war, wahrscheinlich musste diese ganz spezifische Kreuzberger 1.-Mai-Atmosphäre bei den SchauspielerInnen auch erst mal wachsen. Wenn man mich gefragt hätte, ich hätte ja gerne ein paar Bierflaschen und/oder Pflastersteine von meinem vierten Stock geschmissen, zur Authentizitätssteigerung, aber mich hat ja keiner gefragt. Eigentlich geht es in der Serie um eine Hand voll Bullen eines bestimmten Berliner Reviers, und die entsprechenden DarstellerInnen konnte man in den Tagen davor mit Bier, Kaffee, Zigaretten und Drehbuch in der Hand in den Drehpausen die Straße auf und ab marschieren sehen, etwas irritierend war das schon, was wäre denn passiert, wenn man ausgeraubt worden wäre und einen echten Polizisten gebraucht hätte? Wären die Schauspieler eingesprungen? Oder würden sich Ganoven bei einer solchen Überpräsenz ohnehin gar nichts trauen? War meine Straße in der letzten Woche etwa der sicherste Platz dieser Erde?
Das Namenübertragen in den neuen Rechner jedenfalls war geradezu kontemplativ, man vergisst ja immer, wie viele Menschen man vergisst. Manche sterben, manche ziehen weg, bei manchen hatte man gedacht, man würde sie vielleicht öfter sehen und sich darum hoffnungsvoll die Daten aufgeschrieben, und dann war es doch bei diesem einen Kontakt geblieben. Viele habe ich auch einfach verdrängt, ich weiß nicht mehr, wieso ich irgendwann mal einem „Bulli Baermann“ gemailt hatte, wahrscheinlich hab ich bei eBay ein Paar 60er-Jahre-Zeitungen von ihm gekauft. Natürlich hätte ich „Bulli Baermann“ danach sofort löschen sollen, aber manchmal denke ich, vielleicht ist das auch die zenbuddhistische Art, sich einen neuen Bekanntenkreis anzuschaffen: Man schickt einfach bei der nächsten Geburtstagsparty eine Rundmail an das gesamte Adressbuch und guckt mal, was sich dabei an Allianzen ergibt.
In dem Zusammenhang möchte ich gerne wissen, wieso ich seit einiger Zeit den Newsletter der Kanarischen Rundschau bekomme, das scheint eine Art deutsche Zeitung von Kanarische-Inseln-Gästen zu sein, was umso unerklärlicher ist, weil ich noch nie im Leben auf einer kanarischen Insel war, ich müsste sogar lügen, wenn ich sagen sollte, ich wisse, wo diese In- seln genau sind, ich weiß nur, dass sie nicht an der Nordsee und Ostsee liegen, denn dort kenne ich aufgrund einer genialen Eselsbrücke alle Inseln. Die Kanaren sind jedoch weiter weg, das habe ich mir aufgrund des vorsichtigen Linsens auf die Rundschauschlagzeilen zusammengereimt, sowohl örtlich als auch gedanklich. Oder wie soll man Nachrichten wie „Bau einer Dränage von Vilaflor bis zum Nationalpark Teide“ auffassen? Wo ich bis jetzt immer dachte, eine „Lymphdrainage“ sei etwas, das eifrige kleine Kosmetikerinnen an Damen vornehmen, deren Bindehaut um die Oberschenkel herum müde wird. Keine Ahnung, ob man das auch bei spanischen Bergen anwenden kann, und vor allem, zu welchem Zweck. Aber wenn dieser Touristenhügel demnächst schlanker und sportlicher aussieht, dann weiß ich ja, wer es zu verantworten hat.
Fotohinweis: JENNI ZYLKA PEST & CHOLERA Fragen zu Allianzen? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN