JEAN PETERS POLITIK VON UNTEN : Zwischen Kinderwagenschiebern
Die von Flüchtlingen besetzte Schule in Berlin steht strategisch sehr gut
Wir erleben in der selbst organisierten Flüchtlingsbewegung den Beginn eines neuen Zyklus. In Wien bricht das Protestcamp zur UN-Zentrale auf, in Amsterdam haben die Gruppen eine Kirche besetzt, die ihnen Wärme spendet. In Berlin-Kreuzberg haben sie eine leer stehende Schule besetzt und tun sich mit der Szene zusammen, die für menschenwürdiges Wohnen kämpft.
Zufällig ist dieser Ort strategisch ideal. Er bietet Wärme und garantiert, dass die BesetzerInnen sichtbar bleiben. Die Schule könnte sich aber auch als Akupunkturnadel in der gesellschaftlichen Schicht entpuppen, die sie umgibt: das liberale, aufgeklärte Bürgertum. Die neuen Kreuzberger.
Es sind die Kinderwagenschieber, die dazugezogen sind und sich die doppelte Miete leisten können. Die sich für Streetart aussprechen, solange sie schön ist. Die Weihnachten feiern und selbst gemachtes Holzspielzeug als Geschenk vorziehen. Die sich wegen der Umwelt keinen Weihnachtsbaum kaufen wollen und gerne für Amnesty International spenden. Sie wollen gut sein, aber gemütlich bleiben. Ich kenne das ja auch.
Die Menschen, die das Haus am Samstag vor einer Woche besetzten, wissen wiederum, dass Befreiung wehtun kann. Sie kämpfen für bezahlbare Mieten und die Rechte der Flüchtlinge. Sie reiben sich in Diskussionen, putzen das Haus und schippen den Schnee weg. Sie backen Kuchen für die Nachbarn und gehen mit dem Bürgermeister in den Dialog.
Es sind solche Menschen, die in fünfzig Jahren auf Bühnen eingeladen werden, weil sie gehandelt haben, um drei Forderungen durchzusetzen: dass Flüchtlinge innerhalb Europas Reisefreiheit bekommen. Dass sie nicht in isolierte Lager gesteckt werden, wo Neonazis sie besuchen können. Dass sie nicht mehr in ein Land abgeschoben werden, das sie unterdrückt.
Diese Realität ist der Stich, der die Gutbürger langsam, aber sicher aufrüttelt. Sogar bei Günther Jauch wurde schon darüber gesprochen, dass die Grenzen Europas nur dazu dienen, Wohlstand zu monopolisieren. Viel länger wird unsere Gesellschaft diese Abhängigkeiten nicht verdrängen können. Die Ersten handeln schon.
Ich bin dort schon vorbeigegangen – und wurde sehr lieb empfangen. Ich spürte, wie gut sie sich organisieren. Wem Berlin und Kreuzberg zu weit sind, kann auch spenden. Der gemeinnützige Spendenverein geht mit dem Geld super um. Und wer über 75 Euro spendet, bekommt von mir einen Text zum Thema seiner Wahl. Versprochen. Auch als Weihnachtspostkarte für Familie oder Freunde. Wer spenden will, kann sich im Netz informieren, unter taz.de/refugees.
„Bei Liberalen hört die Freiheit an der eigenen Türschwelle auf“, sagte der russische Revolutionär Michail Bakunin. Libertäre wiederum werden sich immer auch für die Freiheit der anderen einsetzen müssen, um frei zu bleiben. Die Politiker können mit langfristiger Unterstützung rechnen, wenn sie sich für die Menschheit einsetzen. Die Freiheit zu wohnen. Für alle.
■ Der Autor ist Clown und politischer Aktivist Foto: S. Noire