■ Italien: Romano Prodi will die 35-Stunden-Woche einführen: Schöne Theorie, miserable Praxis
Auf den ersten Blick macht die Vereinbarung über die Einführung der 35-Stunden-Woche in Italien angesichts von 4,5 Millionen Arbeitslosen ebenso Sinn wie in Frankreich und Deutschland. Dennoch liegen die Dinge südlich des Brenners anders. Die 35-Stunden-Woche, sollte sie wirklich durchgesetzt werden, könnte höchst negative Folgen haben. Nicht wegen ihres theoretischen Ansatzes, sondern wegen der praktischen Umsetzung. Italiens Wirtschaft ist europaweit diejenige mit dem höchsten Anteil an halb- oder illegaler Arbeit. Mehr als ein Drittel der Industriebetriebe, über die Hälfte des Mittelstandes sowie nahezu 80 Prozent der kleinen Selbständigen halten sich nicht an gesetzliche Vorschriften. Der Anteil an Schwarzarbeit liegt bei über 30 Prozent.
Vor etwa zehn Jahren hat die Schattenwirtschaft ihren bisher größten Sprung getan – damals wurde per Gesetz die Wochenarbeitszeit von 42,5 auf 40 Stunden reduziert. Die Zahl illegal Beschäftigter und unangemeldeter Überstunden ist danach um mehr als 25 Prozent gestiegen; gearbeitet wird heute durchschnittlich 47 Stunden, 15 davon schwarz. Die 35-Stunden-Woche könnte einen noch massiveren Effekt zeitigen, zumal sie in einer Krise kommen soll. Zusätzlich belastet, daß trotz der nun durchgeführten „kleinen Reform“ der Altersversorgung noch viele Arbeiter und Angestellte schon mit 52, 53 Jahren in Rente gehen dürfen – kein besonderer Anreiz für die Planung neuer Arbeitsplätze, wenn man darauf viel früher als anderswo wieder für teures Geld neue Mitarbeiter einschulen muß. So wird die 35-Stunden-Woche, so richtig der Schritt theoretisch ist, den Arbeitsmarkt in Italien am Ende nur marginal entlasten. Umgekehrt aber wird durch die absehbare erneute Steigerung der Schattenwirtschaft sozialer Schaden angerichtet, die Rücklagen für Renten, Arbeitslosenhilfen und Gesundheitswesen werden weiter reduziert. Strengere Kontrollen der Unternehmen sind in Italien Utopie – gerade mal 3.000 Visiten haben Arbeitsinspektoren im letzten Halbjahr durchgeführt. Die Abstinenz von der Überwachung wird auch von Regierungsseite geduldet. Sie weiß, daß sie im Grunde jeden zweiten Betrieb schließen müßte, wenn man alle massiven Verstöße gegen Arbeitsgesetze ahnden würde.
„Fatta la legge, trotvato l'inganno“ heißt ein italienisches Juristenwort: Das Gesetz ist verabschiedet, das Schlupfloch auch schon gefunden. Die Regierung Prodi wird wohl nach alter Tradition darauf hoffen, daß auch in Sachen 35 Stunden am Ende alles nicht so richtig ernst genommen wird. Werner Raith
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