■ Ist es Otto? Ja, aber Reutter: „Da wirft sie meistens ,Alle Neun‘!“
Düsseldorf (taz) – Na Otto, haste Dir jewundert, daß sie nicht mal zu Deinem 125. Geburtstag vorgestern an Dich gedacht haben, all die Feuilletonangeber der Nation, der selbstbewußten? Wohl kaum, wo Du Dich doch schon zu Lebzeiten „über jarnischt mehr“ wundertest. Sicher hast Du mitgekriegt, daß sie alle schwer beschäftigt waren, auf Jünger zu machen und auf Ernst sowieso. Während Du ja bloß ein U-Künstler, ein Tingeltangel-Literat, ein Musen-Bastard warst: ein Humorist, au weia.
Nichts für ungut, lieber Jubilar, aber da Du nun mal ein so toter Hund bist, da die Leute von heute zwar Otto kennen, aber nicht Reutter, den Wortartisten, der einst Säle mit tausend, zweitausend Menschen zu Lachstürmen und Lächelbrisen hinreißen konnte, live, unplugged und ohne Lachkonserve – deshalb müssen wir hier mal etwas Nachhilfeunterricht geben. Kannst ja weghören.
Die Wiege stand in der Sandstraße 10 des märkischen Garnisonskaffs Gardelegen, gleich über der Bierstube der Großeltern. Dem kleinen Otto Pfützenreuter, wie er richtig hieß, schien ein verdammt mittelmäßiges Schicksal beschieden. Nach der Volksschule (eine Klasse, ein Lehrer, Hauptsache Religion) steckte ihn der Vater, ein Hausierhändler, in die Kaufmannslehre. Der Bengel verschliß mehrere Lehrherren, tauchte in Berlin unter und bald auf dortigen zweifelhaften Volksbelustigungsbühnen wieder auf. Nicht lange, da verpaßte ihm der Senior zur Strafe eine Bürostelle in Karlsruhe. Doch Spaßvögel gibt es überall, und so kam Otto in Kontakt mit fahrenden Volkssängern – und dadurch erst richtig auf den Geschmack des Coupletschmiedens und -singens (Couplets, das sind Strophenlieder mit einer feststehenden Refrain-Sentenz, zum Beispiel: „Nehm'n Sie 'n Alten!“ oder „Alles weg'n de Leut'“), eine Kunst, die Reutter mit Präzision und Hintersinn, Wortwitz und Musikalität zu ungeahnter Blüte trieb.
Seit der Jahrhundertwende war er der Star des mondänen Berliner „Wintergarten“, des Leipziger „Krystall-Palast“ und all der anderen aus dem Boden schießenden Varieté-Häuser, und der höchstbezahlte obendrein. Weshalb er, als Vertreter der nicht für voll genommenen „zehnten Muse“, denn auch fröhlich spottete: „Nun mögen jene mich verlachen, / Die eine der neun Musen frei'n; / Mein Trost ist: Im Geschäftemachen, / Da wirft sie meistens ,Alle Neun‘!“ Oft gab es jedoch Ärger mit den Zensoren. Die hatten, an jedem Auftrittsort neu, das Programm abzusegnen und strichen dem Spötter oft die schönsten Pointen weg. Er sang sie dann entweder „aus Versehen“ doch oder hüstelte sich so subversiv darüber hinweg, daß sich die Zuhörer selber einen Reim machen konnten.
Ja, Otto, ick hör Dir schon maulen: Macht aus mir bloß keinen politisch korrekten Sänger! Gemach, Dicker, wissen wir ja alles: Du hast um 1914 die Kruppsche Kanone besungen und auch sonst den deutschen „Radaupatriotismus“ (Tucholsky) nicht zu knapp bedient. Das hat Dir wohl bald leid getan, nicht nur wegen des häßlichen Heldentodes Deines Sohnes bei Verdun. Nach dem Krieg dann, sagen manche, hast Du mit Deine besten, reifsten Nummern geschrieben – „Sei modern“, „Ich kann das Tempo nicht vertragen“, „Bevor du sterbst“ und viele andere.
Da, wo Du Deinen letzten Auftritt hattest, 1931, zwei Tage bevor Du Dich endgültig totlachtest, im „Apollo-Theater“ zu Düsseldorf, da steht heute ein Hifi-Laden samt Plattenabteilung. Da habe ich den Verkäufer nach Dir gefragt. Er fragte mit Blicken zurück. Dann wälzte er lange dicke Kataloge: nichts! Ach Otto, Du hattest recht: „In fünfzig Jahren ist alles vorbei.“ Olaf Cless
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