: „Ist doch alles Lüge“
Überhaupt nicht inaktuell, sagt Regisseur Tilman Gersch über Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ am Thalia ■ Von Petra Schellen
Eigentlich kann man sich bei der Lektüre dieses Stückes ja beruhigt zurücklehnen: Abtreibungen sind inzwischen – außer in Bayern vielleicht – fast gar nicht mehr illegal; „Engelmacherinnen“ wie zu Zeiten Wendlas, der weiblichen Hauptfigur in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen, haben ausgedient. Behaglich wird da dem Zeitgenossen, zufrieden gähnt er vorm Fernseher, der allerdings penetrant von afrikanischen Genitalverstümmelun-gen berichtet. Aber auch das wird man bald aus dem Hirn gelöscht haben.
Kurz und gut: Wedekinds Stück hat – oberflächlich betrachtet – an politischer Brisanz stark eingebüßt, die Gesellschaft beträchtlich an Verklemmtheit verloren. Lü-ckenlose Aufklärung ab dem dritten Lebensmonat ist selbstverständlich für das moderne Elternpaar.
Warum sie also spielen, die Jahrhundertwende-Kindertragödie, die der Mittdreißiger Tilman Gersch jetzt am Thalia Theater inszeniert. Warum sich den Kopf über Vergangenes zerbrechen? „Weil die Probleme eben nicht vergangen sind“, behauptet der in Berlin geborene Regisseur, der bereits in Schwerin, Greifswald, Berlin und Hannover inszenierte. „Weil es eine Lüge ist, dass die Eltern von heute so locker mit der Pubertät ihrer Kinder umgehen. Weil das ach so tolerante Gewährenlassen nur die Tatsache kaschiert, dass die Eltern Angst haben vor der Entwicklung ihrer Kinder und vor dem eigenen Altern. Und weil die Kämpfe Jugendlicher um die eigene physische und psychische Selbstfindung immer noch ernst genommen gehören.“
In einer Lagerhalle spielt Gerschs Inszenierung, „jugendliche Musik“ – mehr verrät er nicht – iunterlegt das Stück um die Gymnasiasten Melchior Gabor und Moritz Stiefel. Eine Art Treibhaus mit ein paar Pflanzen ist der Raum, in dem sich die ProtagonistInnen treffen. Einer von ihnen – man erinnert sich – ist der bloß theoretisch frühreife Melchior, der zwar einen „Beischlaf“-Traktat verfasst, aber, so Darsteller Andreas Pietschmann, „scheitert, wenn es an die praktische Umsetzung geht.“
Erdrückt und überfordert von der eigenen Veränderung und von schulischen Zwängen fühlen sich die ProtagonistInnen des Stücks, das – nach zensurbedingten Streichungen – von Max Reinhardt 1906 in Berlin uraufgeführt wurde und in den folgenden Jahren nur selten auf die Bühne kam.
Etliche Dispute entzündeten sich am Stoff und an der dahinter vermuteten Grundhaltung Wedekinds, dem vorgeworfen wurde, rechtzeitige Aufklärung zum Garanten einer störungs- und selbstmordfreien Entwicklung der Jugendlichen zu verklären.
Aber keine Lösung, sondern bloß eine Problemskizze bietet das teils stark an den Faust angelehnte Stück, das – nun unzensiert spielbar – ab 1918 und nochmals nach 1945 immensen Publikumszuspruch bekam. Und dessen politische Aussage, so Gersch „natürlich schon lange nicht mehr aktuell ist, aber das ist nicht das einzige wichtige Thema, um das es geht.“
Der eigentliche Gehalt des Textes sei zeitlos, glaubt er: „Sich innerhalb gesellschaftlicher Zwänge zu artikulieren, mit der eigenen Entwicklung fertig zu werden ist immer noch das größte Problem der Pubertierenden. Und dies sei, „obwohl wir ja inzwischen so manchen Film über das Thema gesehen haben“, von Frank Wedekind überzeugend für die Bühne formuliert. Außerdem „wollen wir keine Antworten bieten, sondern Fragen stellen“.
Letztlich will das Ensemble um Gersch also das tun, was Andreas Pietschmann, seit der Spielzeit 1999/2000 am Thalia und vorher unter Leander Haußmann am Bochumer Schauspielhaus tätig, als Parzival – eine Rolle im Rahmen eines WDR-Hörfunkprojekts vor einigen Jahren – unterließ: die Frage nach dem Grund des Leidens will die Inszenierung stellen, die Frage danach, warum Wedekinds Figuren nicht aus ihren Verhaltensmustern ausbrechen und warum sich auch die Eltern trotz Ehekrachs nicht aus den gesellschaftlichen Zwängen befreien können.
Und wenn man die aktuellen gesellschaftlichen Zwänge als Mischung aus selbst definierten Sachzwängen und masochistisch ins Hirn gepfropftem Mainstream-Aberglauben definiert, ist das Stück wieder bei genau jener Aktualität angekommen, die Gersch ihm so gern zugestehen möchte.
Premiere Donnerstag, 24.5., 20 Uhr. Weitere Vorstellungen: 29., 30.5., 20 Uhr, Thalia Theater
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