„Iss! Wer isst, spricht nicht!“

Wahre Lokale (70): Ein ganz normaler Abend auf der „Wielandshöhe“ in Stuttgart

Doch das war nur der Anfang. Klink war wie entfesselt. Er verschwand in der Küche.

Später hätte niemand mehr sagen können, wie es eigentlich dazu kam. Es war ein ganz normaler wundervoller Abend auf der Stuttgarter „Wielandshöhe“. Alles war perfekt – nicht zu perfekt, nicht abgetötet überperfekt und eben genau deshalb wirklich perfekt.

Ruhig zogen Kellnerinnen, Kellner und Sommeliers ihre Bahnen, trugen auf oder ab, berieten freundlich, schenkten ein und machten die Menschen froh. Blumen dufteten üppig, der Blick aus den Fenstern war angenehm – wenn man bedachte, dass es Kehrwochen-Stuttgart war, auf das man sah, war die Aussicht sogar märchenhaft, geradezu sensationell.

Die gut geölte Maschinerie der „Wielandshöhe“ schnurrte ohne hochtourigen Lärm. Patronin Elisabeth Klink segelte mit der Würde eines Viermasters durch das Lokal, in dem alle Stadien der Vorfreude, der Freude und der seligen Sattheit durchmessen werden können – und in dem der Gast sich genau deshalb so ganz besonders aufgehoben fühlt. Die Sinne prickelten vor Wachheit, und drei Worte senkten sich in den Geist: Es ist gut.

Eben wurde der Abend mit Champagner und einer kleinen Tarte eingeschmeckt, als sich urplötzlich der Himmel verdüsterte. Ob die Verstimmung an Cora Stephan lag, die das Lokal betrat und dabei ein Soldatenlied sang?

So groß aber ist das Glück, das die „Wielandshöhe“ verströmt, dass ich die Schreckschraube ignorierte – obwohl das schwer fiel, denn die Dame ist durchdringend. Oder war auch Hellmuth Karaseks fast zeitgleiches Auftauchen mit verantwortlich für die späteren Ereignisse? Der Paradefeuilletonist strummselte rotköpfig zur Tür herein und hatte noch nicht Platz genommen, als er sämtliche Gäste schon zur Zwangszuhörerschaft verurteilte: „Mein Buch läuft super! Das habe ich persönlich bei Bouvier abgefragt. In Berlin. In Mitte. In der Hauptstadt, jawohl! An der Kasse. Jeden Tag.“ Das stimmte zwar, machte den Mann und die Sache aber auch nicht erduldbarer.

Endgültig ausgelöst wurde das Inferno ausgerechnet von Hans Küng. Mit den Worten „Ich bin ein wichtiger Religionsstifter und brauche Platz für drei!“ verschaffte sich der resolute Dauerketzer Einlass. Anschließend ging er dazu über, seine Begleiter lückenlos über sein „Projekt Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft“ zu informieren. Unter dreimal Welt in einem Titel fing Küng gar nicht erst zu dichten an.

Die Folgen waren verheerend. Schon nach zehn Minuten war Küngs Claque am Ende. Doch der Weltethiker kannte keine Gnade. Weiter rummelte er auf seine Opfer ein, die zu stöhnen, zu jammern und zu flehen anhuben. Küng, der Rock-am-Ring-erprobte Schlammketzer, erbarmte sich ihrer nicht im Geringsten.

All dies sorgte für beträchtliche Unruhe. Die Nervenenden der meisten Gäste glätteten sich jedoch, als der Patron die Szene betrat: Vincent Klink, Grundgüte in Person und mit den Sehnsüchten der menschlichen Sinne so vertraut, dass er bislang noch jeden Krakeeler friedlich hatte stimmen können. Doch Hans Küng war ein harter Brocken. Der kritische Superchrist hielt einfach nicht den Schnabel. Auch die köstlichsten Desserts wollten nicht helfen.

„Weltethos! Éthique Planétaire! Global Ethics! That’s me!“, orgelte Küng wohl zum hundertsten Mal an diesem Abend. Da tat Klink etwas sehr Seltenes: Er fuhr aus der Haut. Mit einem Ruck seiner Schultern sprengte er seine großzügig bemessene Kochjacke, deren Knöpfe wie Schrapnells durchs Lokal sirrten. „Heuchelglommse!“, stieß der nun barbäuchig gewordene Klink hervor. „Kennst du denn gar kein Mitleid, du Silberzunge? Iss endlich! Wer isst, spricht nicht!“

Hans Küng war vom Dauerpredigen taub geworden und traktatete weiter. Das war ein Fehler. Klink gab der Menschheitsgeißel einen katholischen Judaskuss mit Zunge, an dessen Offenherzigkeit Küng erstickte. Doch das war nur der Anfang. Klink war wie entfesselt. Er verschwand in der Küche und kam mit einem Satz japanischer Messer zurück.

Der Anblick Joseph Fischers an Tisch acht zauberte ein bacchantisches Lächeln auf Klinks Antlitz. Er betrachtetet den Mann mit dem grauen Gesicht, dem grauen Scheitel und dem grauen Anzug. Neben Fischer saß ein blond gefärbter Mann und sagte treuherzig: „Wenn du jetzt noch deine alten Turnschuhe anhättest, wärst du der beste Politiker der Welt.“ Es war Campino von den Toten Hosen. Er war so glücklich, bei Fischer zu sitzen ...

WIGLAF DROSTE

Fortsetzung und Schluss morgen