Israel geht gegen Hamas vor: Die Palästinenser fordern Vergeltung
Am Wochenende starben in Gaza mehr als 70 Menschen durch Angriffe der israelischen Armee.
JERUSALEM taz "Nicht für eine Sekunde" will Israels Premierminister Ehud Olmert die israelischen "Anti-Terror-Maßnahmen" im Gazastreifen einstellen. Über 70 Tote forderten die Angriffe der Armee am Wochenende, darunter, laut Krankenhausberichten in Gaza, 18 Frauen und Kinder. Bei den punktuellen Invasionen starben am Samstag auch zwei israelische Soldaten.
Der UN-Sicherheitsrat hat am Sonntag das "unverzügliche Ende aller Gewaltakte" gefordert. Die 15 Mitgliedsstaaten drückten ihre "tiefe Besorgnis über den Verlust von zivilen Menschenleben im Süden Israels und im Gazastreifen" aus. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon räumte ein, Israel habe das Recht, sich zu verteidigen. Er bedauerte aber "den unverhältnismäßigen und übertriebenen Einsatz von Gewalt, der so viele Zivilisten, darunter Kinder, verletzt und getötet hat".
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) rief zu einem Ende der Gewalt auf. "Israel hat das Recht, sich gegen terroristische Angriffe zu verteidigen", erklärte Steinmeier. Dabei müsse das Land aber "den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren".
Unterdessen haben Medien in Saudi-Arabien die Offensive Israels im Gazastreifen mit den Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten verglichen. "Saudi-Arabien verurteilt die israelischen Kriegsverbrechen gegen das palästinensische Volk und die Drohungen israelischer Politiker, Gaza in ein Inferno zu verwandeln", berichtete die staatliche Nachrichtenagentur SPA. Saudi-Arabien sei der Ansicht, dass Israel durch dieses Vorgehen die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten nachahme.
Die palästinensische Führung im Westjordanland zog ihre Konsequenzen aus der Lage: Sie setzte die Friedensverhandlungen auf unbestimmte Zeit aus. Bis gestern Nachmittag schossen Kämpfer der Hamas erneut 15 Raketen auf Israel ab.
"Jetzt ist nicht mehr die Zeit, um von einem Waffenstillstand zu reden", kommentierte Ahmad Jussef, Sprecher des palästinensischen Expremierministers Ismael Hanijeh (Hamas), am Sonntag auf Anfrage. "Unser Volk leidet unter Sanktionen. Wir sind angegriffen worden, jetzt wollen die Palästinenser Vergeltung." Die Hamas-Führung hatte in der jüngeren Vergangenheit einen Waffenstillstand angeboten - vorausgesetzt, Israel werde die militärischen Angriffe im Gazastreifen und im Westjordanland komplett einstellen. Nun nimmt die Hamas die Gefahr einer großangelegten Bodenoffensive in Kauf. "Ich wünschte, wir hätten moderne F-16-Kampfflieger, die die westlichen Hightech-Nationen Israel zur Verfügung stellen", schimpfte Jussef. "Wir werden im Falle einer Invasion mit all dem kämpfen, was uns zur Verfügung steht", kündigte der Hamas-Sprecher an. Zugleich erklärte Jussef, dass "es Überraschungen geben wird".
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas lehnt den Raketenbeschuss der konkurrierenden Palästinenser-Organisation Hamas grundsätzlich ab. Er verurteilte jedoch zugleich die Angriffe der israelischen Armee scharf. "Was in Gaza passiert, ist schlimmer als ein Holocaust", sagte Abbas. Der Palästinenserpräsident bezog sich damit auf den verbalen Ausrutscher des israelischen Vizeverteidigungsministers Matan Vilnai, der Ende vergangener Woche den Palästinensern mit einem "Holocaust" gedroht hatte, sollte der Raketenbeschuss nicht enden. Abbas kündigte an, dass es zu keinen weiteren Treffen der Verhandlungsgruppen im Friedensprozess kommen werde, solange Israel die Militärangriffe fortsetzt.
In einer Pressemitteilung des Außenministeriums in Jerusalem hieß es, dass die Entscheidung der Palästinenser, die Verhandlungen zu stoppen, "weder die Entscheidungen noch die Maßnahmen Israels in Gaza oder anderswo beeinflussen, die nötig sind, um die eigenen Staatsbürger zu beschützen". Bei den auch am Wochenende andauernden Raketenangriffen aus Gaza trugen sieben Israelis überwiegend leichte Verletzungen davon.
Der über Lautsprecher verkündete Raketenalarm "Zewa adom" ("Farbe Rot"), der für die Bevölkerung in Sderot seit Jahren zum Alltag gehört, ertönte in den vergangenen Tagen auch in der Hafenstadt Ashkelon, in der rund 115.000 Menschen leben. "Wir haben seit zwei Jahren mit Angriffen aus Gaza gerechnet und uns darauf vorbereitet", meint Anat Weinstein-Berkowitsch von der Stadtverwaltung. "Jetzt rutschen wir von der Trockenübung in den Ernstfall." Achtmal war Ashkelon am Wochenende beschossen worden. Trotz der akuten Bedrohung waren gestern alle Schulen und Kindergärten geöffnet. "Wir zahlen, genau wie die Menschen in Gaza, den Preis für das Regime der Hamas", so die Sprecherin im Rathaus.
Schon vor zwei Jahren hatten Mitglieder der Fatah-nahen Al-Aksa-Brigaden angekündigt, im Besitz von Grad-Raketen zu sein. Sie verfügen über eine Reichweite von über 20 Kilometern und haben eine größere Tragfähigkeit als die heimgefertigten Kassam-Raketen. Israel geht davon aus, dass die moderneren Raketen, in Einzelteile zerlegt, über die ägyptische Grenze nach Gaza geschmuggelt wurden und aus dem Iran stammen.
"Wer glaubt, mit einer Verbesserung der Raketenreichweite Israel von Gegenaktionen abzuhalten, begeht einen großen Fehler", warnte Regierungschef Olmert vor Beginn der sonntäglichen Kabinettssitzung. Kritik an den bisherigen Militärmaßnahmen musste sich Olmert allerdings von Awi Dichter anhören, dem Minister für Öffentliche Sicherheit. Er forderte die Regierung zu schärferen Schritten auf. Dichter stellte fest, dass die bisherigen Maßnahmen ihr Ziel verfehlten und die Raketenbedrohung unverändert weiterbestünde. "Wir produzieren Geisterstädte", meinte er.
Am kommenden Mittwoch soll das Sicherheitskabinett über weitere Schritte der aktuellen Operation mit dem Namen "Heißer Winter" entscheiden. Olmerts Ziel ist neben der Eindämmung der Raketengefahr offenbar auch der Sturz der Hamas im Gazastreifen. Niemand könne bestreiten, so der Regierungschef, dass "eine Schwächung der Hamas den Friedensprozess mit den moderaten Elementen, mit denen wir verhandeln, ermutigen wird".
Während sich innerhalb der Regierung offenbar eine härtere Position durchsetzt, hinterfragten zwei führende Zeitungen am Sonntag die Intention der Armee. Amos Harel von der liberalen Haaretz schrieb, dass Israel es bei diesen Kämpfen ablehne, "sich von der Hamas weder Gangart noch die Intensität vorschreiben zu lassen". Ähnlich wertete Jediot Ahronot die Lage: "In den vergangenen 48 Stunden war es nicht mehr die Hamas, die die Kämpfe eskalieren ließ, sondern die Israelische Verteidigungsarmee", schreibt Ron Ben-Ischai. Er vermutet, dass "dem militärischen Flügel der Hamas ein höherer Preis abverlangt werden soll".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“