Islamisten in Sarajevo: Geist der Toleranz gefährdet
In Bosniens Hauptstadt machen sich islamistische Eiferer breit. Die Muslime geraten in den Sog des Fundamentalismus. Noch setzt sich die Zivilgesellschaft zur Wehr.
SARAJEVO taz Die Wochenzeitung Slobodna Bosna titelte drastisch: "Kristallnacht der Taliban in Sarajevo". Mitglieder der Zivilgesellschaft wie der Filmemacher Danis Tanovic sprachen von einem "islamischen Faschismus", der in den letzten Tagen in Sarajevo zum Vorschein gekommen sei. In den Medien und der Öffentlichkeit Sarajevos wird nach wie vor heftig über die Übergriffe von islamischen Extremisten auf Mitglieder der Zivilgesellschaft in der vergangenen Woche diskutiert. Der vielbeschworene multikulturelle Geist der Toleranz, für den Sarajevo wie keine andere Stadt des Balkans steht, ist in den Augen der liberalen und nicht nationalistischen Öffentlichkeit durch Islamisten gefährdet.
Zu einer von Lesben und Schwulen angekündigten Veranstaltung in der Kunstakademie versammelten sich am Mittwochabend außer Hunderten Unterstützern aus der Zivilgesellschaft auch islamistische Extremisten, sogenannte Wahhabiten, und gewaltbereite Fußballanhänger der "Horde Zla", Horde des Bösen. Sie wollten die Veranstaltung verhindern, skandierten "Gott ist groß" und versuchten einen dichten Polizeikordon zu durchbrechen. Als dies nicht gelang, warteten die Islamisten in einer Nebenstraße auf die Teilnehmer und griffen die prominenten Journalisten Pedja Kojovic, Emir Imamovic und den Herausgeber der Wochenzeitung Dani, Senad Pecanin, an.
Dass das Coming-out von Lesben und Schwulen bei den in diesen Dingen sehr rückständig denkenden Menschen auf dem Balkan zu Aggressionen führt, ist auch in Kroatien und Serbien zu beobachten. So reagierten kroatische und serbische Neonazis bei Demonstrationen der Schwulen- und Lesbenbewegung ebenfalls wiederholt mit Gewaltakten. "In Exjugoslawien waren Minderheiten wie die Hippies oder Punks immer von Schlägertrupps unterschiedlicher Herkunft bedroht, die jetzigen Angriffe haben also Tradition", sagt die Journalistin Aida Cerkez-Robinson.
Trotz dieser gesellschaftlichen Determination haben die Übergriffe in Sarajevo für viele Beobachter noch eine weitere Qualität. Denn nicht nur bei den von Saudi-Arabien beeinflussten Islamisten, die eine Splittergruppe geblieben sind, sondern auch in der religiösen Presse der bosnischen Muslime wurde die Manifestation der Schwulenbewegung als ein direkter Angriff auf den Islam ausgelegt. Seit einigen Jahren schon beobachtet die kritische Öffentlichkeit die zunehmenden Versuche der islamischen Gemeinschaft Bosniens, das Bewusstsein der muslimischen Bevölkerungsgruppe, der Bosniaken also, im Lande zu verändern. Nach außen hin propagiert der Reisu-l-Ulema, Mustafa Ceric, den bosnischen Islam als Modell für einen toleranten, demokratischen Islam in Europa, gleichzeitig jedoch versucht die islamische Gemeinschaft immer mehr Lebensbereiche unter ihre Kontrolle zu bekommen. "Wo immer sich eine grüne Wiese befindet, wird eine Moschee gebaut," witzeln viele in der Stadt.
Der Bau einer Moschee auf einem von Cafés und Geschäften umrahmten Platz in dem mutinationalen Stadtteil Ciglane führte zwar in diesem Frühjahr zu Unmutsäußerungen der Bewohner, die islamische Gemeinschaft jedoch setzte sich durch. Der Vorschlag, schon im Kindergarten islamischen Religionsunterricht einzuführen, konnte noch verhindert werden, doch die Religiösen gewinnen immer mehr Einfluss in Verbänden und Parteien in einer Stadt, in der mehr als 85 Prozent Muslime sind. Die islamische Gemeinschaft will jetzt zunehmend "schädliche" Einflüsse aus Europa aus Bosnien verdrängen. Typisch europäische Erscheinungen wie Drogen und Kriminalität - die es in muslimischen Ländern demnach nicht gibt - sollen die Jugend nicht verderben. Nicht serbische und kroatische Nationalisten, sondern die laizistischen Muslime, die "Liberalen Sarajevos", sind jetzt die "Hauptfeinde der muslimischen Bevölkerung", so jedenfalls heißt es in der in Sarajevo erscheinenden islamischen Zeitung Saff.
Die Religiösen haben Erfolg. Die beiden großen politischen Parteien der Bosniaken wie die SDA oder "Die Partei für Bosnien" treten zwar nicht offen auf Seiten der islamistischen Schläger auf, entschuldigen aber die Übergriffe. In ihren Augen hätten die Schwulen die Gefühle der Menschen verletzt. Die vom Filmemacher Tanovic neu gegründete gegen die Nationalisten aller Volksgruppen auftretende "Nasa Stranka" (Unsere Partei) und die sozialdemokratische SDP hoffen jetzt bei den Kommunalwahlen am Sonntag auf Unterstützung all jener, die sich gegen den antidemokratischen Geist der Religiösen in Sarajevo stellen wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“