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Archiv-Artikel

Irres Getoengedroehn

Zwei seelenverwandte Dichter und die vielen Ableitungs-, Kombinations- und Beugungsmöglichkeiten der Sprache: Oskar Pastior und Velimir Chlebnikov

VON OLIVER RUF

Das El. Ihm fallen Elfen ein, Elche, Lessing. Diese „Ver-El-lichung“, den „El-Gewinn“, die „El-Kraft im Lautleib des El“ hat der herausragende Letternforscher und Sprachartist Oskar Pastior bereits vor dreißig Jahren protokolliert. Er schreibt: „Chlebnikov spricht, während ich dolmetsche, von den El, den leichten Leli.“

Anlass des Dolmetschens war ein Projekt, das Peter Urban, Übersetzer, Herausgeber und Essayist, Ende der Sechzigerjahre anging und mit dem er das anthologische Prinzip, das üblicherweise Werkausgaben zugrunde liegt, ausweitete: Deutschsprachige Schriftsteller, die ein Verhältnis zu Velimir Chlebnikov hätten haben müssen, sollten dazu angeregt werden, mit den Mitteln und Methoden dieses russischen Futuristen und „Zaum“-Dichters Entsprechungen in deutscher Sprache zu versuchen.

Hans Magnus Enzensberger beteiligte sich, Franz Mon, Paul Celan, Gerhard Rühm, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker und zum Beispiel Oskar Pastior, der sich in seinem Aufsatz „Vom geknickten Umgang mit Texten wie Personen“ an ein reizvolles Vorhaben erinnert, das es am Ende möglich machte, viele Chlebnikov-Texte in drei, vier, fünf Übertragungen parallel zu lesen. Ein Höchstmaß an Offerte. Das war 1969.

Pastior befand sich damals in Berlin. Ein Jahr zuvor hatte sich der Siebenbürger Sachse in den Westen abgesetzt und vom rumänischen Kommunismus Abschied genommen. In Deutschland dichtet er seit nunmehr drei Jahrzehnten lyrische Wechselbälger, schöpft seine Verse aus einem kryptischen Sprachreservoir, aus der Mundart seiner Kindheit, aus Resten von Schullatein und Griechisch, aus Neu- und Mittelhochdeutsch, aus romanischen und slawischen Sprachbeständen.

Schon immer hatte er großen Appetit auf die kompliziertesten Verfahren dichterischer Produktion. Also versammelt sein Werk einen, wie es heißt, „krimgotischen Fächer“, weiterhin Anagrammgedichte, Sonetburger, Palindrome (etwa unter dem Titel „Kopfnuss Januskopf“) und in dem Band „Die Kleine Kunstmaschine“ die Sestine, eine Gedichtart aus sechs Strophen mit je sechs Zeilen und einer dreizeiligen Schlussstrophe. Er wiedererweckte zwei vergessene Poesietypen, linguale Leckereien, nämlich die Villanella, ein neapolitanisches Hirten- und Tanzlied aus dem 16. Jahrhundert, und das Pantun, eine im 19. Jahrhundert von den Malaiischen Inseln nach Frankreich gelangte Gedichtform. Dafür erhielt er vor drei Jahren verdientermaßen den Peter-Huchel-Preis.

Dass er in Chlebnikov schnell einen Anverwandten fand, einen, der wie er selbst als Alchemist im Sprachlabor rumort, ein Mitglied der Familie der Wörtlichnehmer, der dichterische Fleißaufgaben dadurch löst, dass Ableitungs-, Kombinations- und Flexionsgelegenheiten der Sprache gierig ergriffen werden, ist begreiflich. Besonders die Abstraktionsmöglichkeiten in Chlebnikovs Lyrik begeisterten Pastior: „Was da alles innerhalb des Russischen passiert; und was das Deutsche, wenn auch anders, aber analog dazu, an Wort- und Syntagmen-Neubildungsmodalitäten bereithalten könnte, sollte, müsste.“ Wahrig, Kluge, Dornseiff und andere Wörterbücher halfen ihm, deutsche Stammsilbenfamilien auf ihre Chlebnikov-Verträglichkeit hin zu untersuchen.

In seiner „Allerleilach“ („Kopfankopf-Koppel“) spielt Pastior in dieser Weise: „Zum Lachen, dass ich nicht lache. Mich lachzig lache, mich lächerig lache, in Auflachungen die Lacher lächerlich lache, mich vor Lachen erlache, vor Lächerlichkeit mich lachend belache, nach Lache lechze vor Gelächter, lachhaft, lachhaft, lachhaftiglich lachhaft, hach.“ Gleichermaßen im „Liebsatz“: „In liebeloher Zulieblichung, liebst Liebstling liebstersten Maßlubst, wie lieb lieb Lub tut.“

Mit dem neuen, bibliophil gestalteten Gedichtband im Verlag Urs Engeler Editor wird Pastiors Chlebnikov endlich wiederentdeckt. 28 Varianten belegen die Wortmagie zweier ähnlicher Dichter. Der eine, Chlebnikov (1885–1922), zählt zum Umfeld der russischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts. Der andere, Pastior, 1927 geboren, gehört heute zu den bedeutendsten Lyrikern der Gegenwart. Velimir Chlebnikov suchte als Mathematiker eine Weltformel, mit der zukünftige Ereignisse berechenbar werden, und kreierte als Graphomane eine „Weltsprache“ mit universell lautlicher Gültigkeit, die Oskar Pastior verstanden hat und poetisch beherzigt. „Denn um Chlebnikov in eine andere Sprache überzusetzen“, das erklärt ein kluger Beitext von Felix Philipp Ingold am Ende der neuen Ausgabe, „genügt es nicht und ist es auch nicht möglich, Chlebnikov korrekt zu ‚übersetzen‘; Chlebnikov zu übersetzen heißt nach Chlebnikov zu dichten, heißt wie Chlebnikov zu dichten, heißt Chlebnikov fortzuschreiben in der Zielsprache – hier also im Medium des Deutschen.“

Das ist die Idee: „Das Wort in seinem jetzigen Sinn ist ein zufälliges Wort, notwendig für irgendeine Praxis. Aber das genauere Wort muss jede beliebige Schattierung eines Gedankens variieren.“ So rief Wladimir Majakowski seinem Lehrmeister Velimir Chlebnikov 1922 nach. Pastior tritt dieses Erbe an, denn auch er bedient sich des „Periodensystems des Wortes“ und bildet gemäß Chlebnikov eine „Sternensprache“, die sich auf den historisch gewachsenen Wortbestand stützt. Ebendies tun Dolmetscher. Sie interpretieren den Kern der fremden Sprache. Das Übersetzen ist für Pastior deshalb ein „Sonderfall des Selberschreibens“, „ein Experiment, dessen einmalige Anordnung, die von der Sache kommt, auch eine zum Projekt gehörende Ästhetik generiert“. Erst übersetzt heißt richtig gelesen.

Allen Übersetzungen und Texten von Oskar Pastior zu Velimir Chlebnikov wurden erstmalig die entsprechenden russischen Originale gegenübergestellt. Damit wird das ganze Ausmaß des Dolmetschens auf jeder Doppelseite ersichtlich. Hörbar wird es anhand der beigelegten CD, die das Buch zum Booklet macht und ferner zum Bild, denn um den rosaroten Tonträger wurden rosafarbene Halbkreise drapiert, die dem Gedichtband ein ansehnliches Äußeres geben.

Nun schenkt Oskar Pastiors Vortrag seinem Chlebnikov eine sanfte Stimme, die Stimme eines Erzählers, die behutsam ins Ohr passt. Sein Akzent, sein Ausdruck, dieser Klang, das alles ist märchenhaft. Ergänzt wurde die ursprüngliche Tonspur einer Aufnahme von 1989 aus dem Studio des Literarischen Colloquiums Berlin um die Lesung von „getoengedroehn um den verstand“, ein Poem nach Chlebnikovs „blagovest umu“, das Pastior als Hommage an das, was der Umgang mit Chlebnikovs Texten ihm bedeutet, aus der Hand gegeben hat: „sah ums mental-instrumentarium herum / sah um sein pfauch-gepümpel das mich pumpte / den ,kleb-nie-stoff‘ sich fädelnd pumpen“.

Oskar Pastior: „Mein Chlebnikov“. Russisch/ deutsch, Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein/Wien 2003, Hardcover, Compact-Buch, 15 x 20 cm, 64 Seiten mit Audio-CD, 24 Euro