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Archiv-Artikel

Irrationale Glucken mit Familienwahn

Armin Petras’ Inszenierung von Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“ am Hamburger Thalia Theater fokussiert Individuen anstelle sozialer Strukturen

von Petra Schellen

Es gibt keine Sicherheiten. Es gibt nur den steil nach vorn gekippten Bühnenboden. Angesiedelt in einem Bunker vielleicht, dessen einziger Schmuck ein riesiger Screen – ein zweites, erhöhtes Bühnenfenster – ist, der die ferne „heile“ Welt zeigt. Ein einfach gestricktes Welt- und Bühnenbild, Synonym für eine schlicht in Oben und Unten geteilte Welt?

Auf den ersten Blick durchaus, lebt doch Gerhart Hauptmanns Drama „Die Ratten“, das am Hamburger Thalia Theater Premiere hatte, von der Getrenntheit der sozialen Schichten, von der gesellschaftlichen Determiniertheit der Figuren. Ein akkurater Spiegel des Zeitgeistes war das wenig euphorisch rezipierte Stück, weil die Uraufführungs-Besucher 1911 mit den Kindstäuschen der Unterschicht-Mütter wenig anfangen konnten. Erst die Erfahrung des Ersten Weltkriegs offenbarte, dass Elend jeden treffen konnte und dass vermeintliche Fallhöhe kein hinreichendes Kriterium mehr war.

Wie einer Scheinwelt entsprungen wirkt in Armin Petras’ erster Regiearbeit für die große Thalia-Bühne der ehemalige Theaterdirektor Harro Hassenreuter (Markwart Müller-Elmau), der auf dem Dachboden einer Berliner Mietskaserne Schauspielunterricht gibt und kaum bemerkt, dass dort auch geprügelt und geboren wird. Als Kasperltheater geriert sich die Schauspieler-Crew, deren Tun nur dadurch interessant wird, dass Hassenreuter sich in Diskussionen mit Hauslehrer Erich Spitta (Thomas Schmauser) verliert, der vom Theologen zum Schauspieler mutieren und anstelle hehrer Stoffe Realistisches auf der Bühne sehen will.

Welche Motive aber kann es geben für die Neuinszenierung eines Stücks, das sich so punktgenau auf soziale Probleme seiner Entstehungszeit bezieht? Die Abbildung der aktuell sich öffnenden globalen Wohlstandskluft, der immer surrealer werdenden Welt sicherer Finanzen und Arbeitsplätze böte sich als Erklärung an. Doch das allein trifft es nicht: Frauenschicksale stehen im Zentrum von Petras’ Inszenierung; deftiges Schauspielertheater mit nur leicht gebrochenen Figuren bieten Susanne Wolff als Pauline Piperkarcka und Natali Seelig als Henriette John, die sich in einem von Not diktierten Kindstausch verheddern. Denn hätte Maurersgattin John das uneheliche Baby des ostpreußischen Dienstmädchens nicht als ihr eigenes ausgegeben – mit dem sie ihren Mann halten will –, hätte sich Pauline in den Kanal gestürzt.

Kindstausch also als Arrangement, das angesichts der sozialen Realitäten alternativlos scheint, um Überleben zu sichern. Und genau dieses strukturelle Eingebundensein hätte interessiert, doch das arbeitet Petras kaum heraus: Er konzentriert sich auf Gefühle – etwa in der Szene, in der Pauline ihr Kind zurückfordert, und die mit dem wehrlos machenden Satz „Aber es ist doch mein Kind“ endet. Mutter-Konditionierung als Basis: Das Leiden derer, die ihr Neugeborenes zur Adoption freigeben, ohne es je gesehen zu haben, scheint hier auf. Doch die Frage ist, ob solche Deutung trägt in einem Sozialdrama wie Die Ratten, ob die Existenz starker Muttergefühle als repräsentativ gelten kann. Brecht’sche Reflexionen über das Kindswohl scheinen ebenfalls auf: Pauline will ihr Kind von Frau John wegholen, weil sie es verwahrlost wähnt; ob sie selbst es ernähren könnte, bedenkt sie nicht.

Frauen als irrationale Glucken mit Familienwahn, die zudem – wie Frau John – eine „Affenliebe“ zu kriminellen Brüdern wie Bruno (Peter Kurth) hegen, der zu guter Letzt Pauline erschlägt. Doch als Frau John davon erfährt, scheint in der Inszenierung erstmals echte Tragik auf: als sie begreift, dass sie eine Spirale der Gewalt in Gang gesetzt hat. Da – im leider spannungsarmen zweiten Teil – beginnt sie ihr Gefangensein zu begreifen. Doch sie zuckt sofort ins Subjektive zurück, wenn sie ihrem Mann (ebenfalls Peter Kurth) angesichts seines Rückzugs mit Hass begegnet. Aber auch hier bleibt die Inszenierung zu nah an den Figuren: In unverständlichem Geschrei verlieren sich in den letzten Akten die Frauen, ohne dass sich die Regie entschiede, ob dies eine Persiflage tragischen Deklamierens sein soll.

Wenig Spannung legt Petras zudem in die Dialoge zwischen Frau John, ihrem Mann und Bruno; Peter Kurths Doppelrolle bringt übrigens keinen Erkenntnisgewinn. Auch die Choreografie bleibt oft unschlüssig; einzig der Zerfall von Herrn Johns Familienträumen vermittelt sich. Und die Hassenreuters sehen ungerührt zu; eine Verbindung zwischen den Ebenen zeigt sich nicht. Das können auch Hassenreuter-Tochter Walburga (Leila Abdullah) und Spitta, als Wanderer zwischen den Schichten gedacht und bis zum Exzess komödiantisch verfremdet, nicht kompensieren.

nächste Vorstellungen: 1. und 2.4., 20 Uhr, Thalia Theater, Hamburg