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Ironische Pose

■ betr.: „Liebe Hörer, überall Ra darfallen“, taz vom 5. 3. 97

Es ist selten und gefällt mir, daß taz-Autoren wenigstens Ansätze von Verständnis für öffentliches Regelungsbedürfnis zeigen, auch wenn dies selbstredend, dem Aufmüpfigkeitsbedürfnis des taz-Publikums entsprechend, nur in ironischer Pose geboten werden darf.

In der Tat scheinen zwei Tendenzen derartige Rundfunkmeldungen zu begünstigen. Da ist zum einen das, was anderen Orts als Infantilisierung unserer Zivilisation bezeichnet worden ist: Triebkontrolle, Über-Ich und Einsicht in Zusammenhänge, die über das persönliche Lustbefriedigungsinteresse hinausgehen, schwinden und sorgen dafür, daß eine – scheinbar nur – emanzipierte, tatsächlich aber lustbestimmte und egoistisch-narzißtische Lebensweise zunehmend Platz greift.

Im Zusammenhang damit steht die zweite Tendenz, und damit schließe ich mich ausdrücklich dem letzten Absatz des oben genannten Artikels an, daß dieses scheinbare Freiheitsdenken beliebig anwendbar ist und gleichzeitig nach freier Fahrt für freie Bürger sowie der Todesstrafe für Heroindealer rufen kann. Liberaler Wirtschaftsstaat (Freiheit) und schärfste Kontrolle der „Sozialschmarotzer“ (Reaktion) sind vereinbar. Nicht nur also, daß man sich von einem als überkommen empfundenen Wertesystem verabschiedet, nein, man sucht sich einfach aus, wo die lästigen Grundsätze vielleicht doch noch in den Kram passen. Schlank gesagt, wo ich den Staat und seine Gesetze benötige, klage ich sie ein; wo ich mich stark und schön genug wähne, gehe ich behenden Schrittes und leichten Fußes darüber hinweg. [...] Ingo Dierck, Kiel

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