
Irakische Marschgebiete: Gefährdetes Paradies im Schilf
Nach dem Sturz Saddam Husseins wurden die Sumpfgebiete im Südirak renaturiert. Heute sind sie bedroht durch Klimawandel, Staudämme – und Armut.
V on einer Sekunde auf die andere breitet sich eine paradiesische Ruhe aus. Nachdem der lärmende Außenbordmotor wegen des flachen Wassers ausgestellt werden musste, gleitet das Boot fast lautlos durch den Schilfgürtel. Zwei Meter hoch sind die Pflanzen, dazwischen Eisvögel, Fischreiher und viele andere Marschbewohner. Sie geben sich entspannt, seit der Motor nicht mehr lärmt. Neugierig beobachten sie die Besucher in ihrer feuchten Welt.
Am Steuer des kleinen Bootes sitzt Ali al-Ahwary, ein Umweltaktivisten aus einem Städtchen am Rande des Marschgebietes im Südirak. Mit dem traditionellen Holzstock schiebt er das Boot durch das scheinbar unendliche Schilfmeer der Marschen.
Für einen Moment gibt es nichts als diese geschichtslose, seit undenklichen Zeiten existierende Natur. „Paradiesisch“ sagt jemand, und tatsächlich haben die Menschen in grauer Vorzeit schon gedacht, dass hier einmal das Paradies gelegen haben soll, aus dem laut Altem Testament Adam und Eva von Gott vertrieben wurden.
Das Boot gleitet durch Wasserwege und durch Schlupflöcher im eng stehenden Schilf zu einem Dorf. Dort leben sogenannte Marsch-Araber – Menschen, die seit Tausenden Jahren das Schwemmgebiet der Flüsse Euphrat und Tigris ihre Heimat nennen.
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Ehemals eines der größten Feuchtgebiete weltweit
Ihre Lebensweise, schrieb der britische Forscher und Reiseschriftsteller Wilfred Thesiger in den 1950er Jahren, unterscheide sich kaum von der der Sumpfland-Sumerer vor 5.000 Jahren. Damals waren die Marschgebiete noch eines der größten Feuchtgebiete der Erde. Die Menschen lebten von Milch und Fleisch ihrer Wasserbüffel und dem Fischfang. Die Häuser bestanden ausschließlich aus geflochtenem Schilf, die Boote entweder ebenfalls oder manchmal auch aus einem ausgehöhlten Baumstamm.
Thesiger begeisterte sich in seinem Buch über die Marscharaber vor allem für deren Unabhängigkeit. Ihr Leben in den Sümpfen sei frei, keine Obrigkeit schreibe ihnen etwas vor. Diese alte Lebensweise hat sich in den vergangenen siebzig Jahren drastisch verändert. Früher bestimmte die Natur – und ihre langsame Veränderung im Laufe der Zeit – das Leben. Dann kamen die Eingriffe der Menschen.
Am Zusammenfluss von Euphrat und Tigris – gespeist durch die jährlichen Überflutungen durch die beiden Flüsse im Frühjahr – bildete sich vor Jahrtausenden ein Sumpfgebiet. Hunderte Kilometer lang zog es sich quer durch den heutigen Südirak. Zur Zeit der Sumerer flossen Euphrat und Tigris noch unabhängig voneinander in den Persischen Golf, der damals noch viel weiter nach Norden reichte als heute – bis zur alten Stadt Ur, auf der Höhe der heutigen Stadt Nassirija. Beide Flüsse bildeten jeweils ein riesiges Delta, die im Sumpfgebiet der Marschen ineinander übergingen.
Als sich die Küste des Golfes durch die alljährlichen Sedimentanspülungen der beiden Flüsse immer weiter nach Süden verschob, bildeten die beiden Flüsse schließlich für die letzten Kilometer zum Meer einen gemeinsamen Strom, den Schatt al-Arab. Am Zusammenfluss von Tigris und Euphrat blieben die Marschgebiete bestehen, und jedes Jahr aufs Neue wurden sie durch die Frühlingsfluten der Flüsse wieder überspült.
Das Leben kehrt zurück
Doch durch menschliche Übergriffe wurden die Marschen nahezu ausgetrocknet. Erst in den letzten zwanzig Jahren haben einige Umweltaktivisten dafür gesorgt, dass mindestens in einen Teil der Marschen das Wasser wieder zurückgekehrt ist. Nicht auf der gesamten Fläche, die sie früher bedeckt haben – aber immerhin in einen zentralen Bereich der Marschen ist so das Leben zurückgekehrt. Und mit ihm auch einige Bewohner.
Von der früher beschriebenen Idylle der Dörfer im Sumpf ist heute nicht viel übriggeblieben: Die Bewohner sind sehr arm, ihre früher imposanten Schilfhäuser sind heute mit Plastikplanen überdeckt, um Regen und Wind besser abhalten zu können. Eine ganze Schar Kinder wartet am Ufer, ohne Schuhe an den Füßen. Die Kinder zeigen stolz die Büffel der Familie, mit ihren geschwungenen Hörnern und langen Ohren.
Dann kommen der Vater der Kinder und der ältester Sohn hinzu. In aller Frühe waren sie zur nächsten Kleinstadt gefahren, um dort Büffelmilch und Joghurt zu verkaufen. Mit einigen Lebensmitteln und Kraftfutter für die Büffel kehren sie zurück. Strom gibt es hier nicht, und auch kein Trinkwasser. Die beiden bringen es ebenfalls aus dem Ort mit. Denn das Wasser der Marschen ist als Trinkwasser für Menschen nicht mehr geeignet. Nur die Büffel vertragen es noch.
Die Marscharaber sind meist arm und wenig gebildet, sprechen einen Dialekt, den die Mehrheitsbevölkerung des Landes nicht versteht, und werden oft diskriminiert. Das war früher anders, erklärt Umweltaktivist Jassim al-Asadi. Er lebt in Dschibaisch, einem Dorf im Zentrum des Marschlandes. Hinter dem Tor geht es durch einen kleinen Garten in das Erdgeschoss eines Holzhauses. Ein großer Raum, vollgehängt mit Plakaten der Umweltorganisation Nature Iraq, ist sein Arbeitszimmer und seine Bibliothek.
Saddam Husseins Erbe
Im südlichen Irak ist al-Asadi der Vertreter von Nature Iraq. Er ist 67, ein freundlicher Mann mit weißem Haar und unter Umwelt- und Naturschützern eine Legende. Ihm ist es im Wesentlichen zu verdanken, dass in den über 20 Jahre lang ausgetrockneten toten Marschen das Leben wieder zurückgekehrt ist. Bis heute ist er so etwas wie der Wächter des Wassers.
Die Marschgebiete des Irak waren bis in die 1980er Jahre noch weitgehend intakt. In den meisten Gebieten der Erde wurden große Sumpfgebiete mit dem Ziel trockengelegt, neues Ackerland zu gewinnen. Doch im Irak war die Trockenlegung der Sümpfe ein politischer Akt: Der damalige irakische Diktator Saddam Hussein gab den Befehl.
Im Schutze der Marschen waren während des Iran-Irak-Krieges Kämpfer der iranischen Revolutionsgarden auf irakisches Terrain vorgedrungen und hatten es zeitweilig auch besetzt. Nach dem Krieg dienten die Marschen irakischen Dissidenten – vorwiegend Schiiten, die gegen den angeblichen säkularen Diktator Front machten – als Unterschlupf.
Anfang der 1990er Jahre gab Saddam Hussein deshalb den Befehl, die Marschen trockenzulegen. Ein Heer an Arbeitskräften wurden aus dem gesamten Irak zusammengezogen. Und dann wurden Dämme und Deiche gebaut, um die beiden Flüsse so einzumauern, dass ihr gesamtes Wasser direkt in den Schatt al-Arab abfloss. Es war eine ökologische Katastrophe.
Marschen sind inzwischen Unesco-Welterbe
Als Saddam Hussein durch die Invasion des US-Militärs im Jahr 2003 schließlich gestürzt wurde, trieb Jassim al-Asadi irgendwo einen Bagger auf und begann, die Deiche entlang der beiden Flüsse wieder einzureißen. Nach 20 Jahre ökologischem Frevel strömte wieder Wasser in die Marschen. Nach der Trockenlegung der Marschen waren Jassim al-Assasi in die Haupstadt Bagdad gezogen. 2003 kehrte er zurück – und arbeitet seitdem unermüdlich für die Rettung der Feuchtgebiet.
Mittlerweile wurden die irakischen Marschen von der Unesco zum Weltnaturerbe erklärt. Und in den Jahren nach 2003 schien es, als würden sich die Marschen erholen: Etwa die Hälfte konnte wieder bewässert werden. Doch seit mehreren Jahren schrumpft das Sumpfgebiet wieder. Der Wasserstand der Flüsse Euphrat und Tigris nimmt dramatisch ab: zum einen durch das immer wärmer werdende Klima, zum anderen wegen der vielen Staudämme, die an den Oberläufen der beiden Flüsse in der Türkei gebaut wurden.
Auf Drängen von Jassim al-Asadi und anderen Aktivisten aus der Marschregion haben die Behörden vor Ort nun einer Maßnahme zugestimmt, um die erneute Austrocknung der Marschgebiete zu verhindern. Kurz vor dem Zusammenfluss von Euphrat und Tigris wurde in den Euphrat ein Wehr, eine Wassersperre gebaut.
An dieser wird das Euphrat-Wasser in die Marschen geleitet, solange der Fluss weniger als 1,70 Meter Wasserhöhe hat. Überschreitet der Euphrat 1,70 Meter Wasserhöhe, fließt das Wasser über das Wehr hinüber weiter in den Tigris und den Schatt al-Arab. „Ohne dieses Euphrat-Wasser läge der größte Teil der Marschen jetzt schon wieder trocken“, erklärt er.
„Am Ende haben wir es selbst gemacht“
Fast jeden Tag ist al-Asadi in den Marschen unterwegs. Am Rande der am Euphrat gelegenen Stadt Dschibaisch hat er mit Unterstützung von Nature Iraq eine biologische Kläranlage aufbauen lassen, die das Abwasser des Ortes reinigt. Erst danach wird es wieder in die Sümpfe geleitet.
Er zeigt auf ein Becken, in dem durch Pflanzen das schmutzige Wasser gefiltert wird. „Eine ganz einfache, aber sehr wirkungsvolle biologische Reinigungsanlage“, sagt er stolz. „Jahrelang haben wir uns dafür mit verschiedenen Behörden herumgeschlagen. Am Ende haben wir es einfach selber gemacht.“
Al-Asadi kennt viele Marscharaber und ihre Familien noch aus der Zeit vor der Trockenlegung der Sümpfe. „Damals“, erzählt er, „waren viele ihrer Dörfer noch weitgehend autark. Sie konnten in den Sümpfen von den Sümpfen leben. Es gab sogar kleine Krankenstationen und Dorfschulen.“ Davon sei nichts mehr übrig – obwohl einige Menschen zurückgekehrt seien. Doch die meisten Familien pendelten zwischen ihren Dörfern in den Marschen und den Kleinstädten am Rand der Sümpfe.
Doch immerhin: Das Leben ist in die über 20 Jahre lang trocken gelegenen Sümpfe zurückgekehrt. Pflanzen und Tiere haben das Gebiet erstaunlich schnell zurückerobert: „Als wir die ersten Dämme eingerissen hatten, war es schon nach wenigen Monaten wieder grün“, erinnert sich al-Asadi. Auch die Vögel, Fische und Insekten kamen schnell zurück.
Rettung ist möglich
Ali al-Ahwary hat zusammen mit seiner Familie und Freunden einen kleinen Anleger am Rand des Feuchtgebietes in Dschibaisch gebaut. Von dort aus transportieren er und seine Mitstreiter Besucher per Boot in die Sümpfe. Anschließend wird auf dem Grill lokal gefangener Fisch gebraten und verzehrt.
Al-Ahwary besuchte im Jahr 2023 gemeinsam mit anderen Aktivisten die Weltklimakonferenz im Golfemirat Dubai – im Gepäck konkrete Forderungen an die Nachbarländer des Irak. „Damit die irakischen Marschen langfristig überleben können, müssen die Türkei und der Iran mehr Wasser aus den Oberläufen von Tigris, Euphrat und ihren Nebenflüssen zu uns durchlassen.“
Al-Asadi pflichtet ihm bei. Und sagt dann: „Aber auch der Irak selbst muss besser mit dem vorhandenen Wasser umgehen.“ Dennoch sind beide fest überzeugt: Eine Rettung der irakischen Marschgebiete, dieser jahrhundertealten, so besonderen Landschaft, ist möglich – auch auf Dauer.
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