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Interview"Tarifpolitik ist keine Sozialpolitik"

Der Gewerkschaftsexperte Hans-Peter Müller plädiert für differenzierte Lohnabschlüsse: Sonst könne man ja gleich den Einheitslohn einführen.

Parole ohne Zukunft. Bild: dpa

taz: Herr Müller, die Gewerkschaft der Lokführer will einen eigenen Tarifvertrag. Zerstört sie damit die Solidarität unter den Arbeitnehmern der Deutschen Bahn?

Hans-Peter Müller: Bisher behaupten das eher die Arbeitgeber. Wahrscheinlich sind viele Bahnangestellte, die keine Lokführer sind, sogar froh, dass nach dreizehn Jahren andauernder Bahnreform sich mal jemand traut, sich zu wehren. Die beiden anderen großen Gewerkschaften Transnet und GDBA haben jedenfalls erklärt, sie würden ihre Mitglieder nicht als Streikbrecher einsetzen lassen.

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Hans-Peter Müller (61) forscht und publiziert zu Gewerkschaften. Er lehrt an deutschen und polnischen Hochschulen. 2006 erschien von ihm "Gestaltend Einfluß nehmen - Bahngewerkschaft und Bahnreform 1993 bis 2005".

Es ist aber kein Geheimnis, dass die beiden großen Gewerkschaften nicht begeistert sind vom Ausscheren der kleinen. Gefährden die Lokführer eigennützig den gewerkschaftlichen Zusammenhalt?

Wenn wir über Solidarität sprechen, dann ist das auch immer eine Frage von Geben und Nehmen. Und die Lokführer haben zu Recht den Eindruck, in den vergangenen Jahren mehr gegeben als zurückbekommen zu haben. Die beiden großen Gewerkschaften haben die Verträge ausgehandelt, und die Lokführer durften dann nur noch unterschreiben. Dabei tragen sie viel mehr Verantwortung als andere Bahnangestellte.

Aber der Grundgedanke von Gewerkschaften ist doch, dass sich Arbeitnehmer in stärkerer und schwächerer Position zusammentun, um gemeinsam bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen.

In Deutschland gibt es diese Tradition der Industriegewerkschaften seit den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, das ist richtig. Im öffentlichen Dienst zum Beispiel konnten die Angestellten am Schreibtisch ihre Forderungen nur dann durchsetzen, wenn die Müllfahrer auch streikten. Aber dieses System hat einen Pferdefuß.

Welchen?

Solche Gewerkschaften müssen die Interessen aller Mitglieder, der Besserverdienenden und der weniger gut Verdienenden, unter einen Hut bringen. Das beinhaltet die Gefahr der Gleichmacherei. Der Lohnanstieg ist für alle gleich, obwohl die Mitglieder unterschiedlich viel Verantwortung tragen und leisten.

Also ist das Ausscheren der Lokführer berechtigt?

Ja, in der Tat.

Warum bricht dieser alte Konsens in den letzten Jahren auf? Nicht nur die Lokführer, auch Piloten und Ärzte kämpfen lieber allein.

Es gibt derzeit wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung, von dem alle gern profitieren würden. Außerdem haben bestimmte Berufsgruppen die Nase voll von den nivellierenden Lohnabschlüssen. Und es wirkt sich ein Manko der Ver.di-Gründung aus: All die kleinen Gewerkschaften, über die wir hier reden, mit Ausnahme der Lokführer, waren früher mit der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft assoziiert. Als die in der Großgewerkschaft Ver.di aufging, machten viele dieser Berufsorganisationen nicht mit, weil sie befürchteten, in der Riesenorganisation Ver.di einfach unterzugehen.

Die Idee, dass Arzt und Krankenschwester gemeinsam für einen besseren Lohn kämpfen, ist am Ende?

Tarifpolitik ist keine Sozialpolitik, jedenfalls nicht in erster Linie. Das sagen auch die Gewerkschaften. Sonst könnte man ja auch den Einheitslohn einführen.Tarifpolitik hat etwas mit Leistung und entsprechender Bezahlung zu tun. Gewerkschaften haben im Übrigen schon immer Vorrechte verteidigt. Sie wurden auch gegründet, um die Interessen der qualifizierten Facharbeiter gegen die der unterprivilegierten und schlecht ausgebildeten Arbeiter zu verteidigen.

Trotzdem gab es Allianzen über die Berufsgruppen hinaus. Derzeit hingegen scheint sich eine Rückkehr zu den Zünften abzuzeichnen. Jeder Berufsstand kämpft für sich. Erleben wir einen Rückfall ins Mittelalter?

Viele behaupten das, aber das ist Polemik. Natürlich erreichen kleine Gewerkschaften nur dann etwas, wenn ihre Mitglieder in Schlüsselpositionen sitzen. Andere Berufsgruppen müssen weiterhin darauf setzen, dass ihre Gewerkschaft große Massen mobilisieren kann.

INTERVIEW: DANIEL SCHULZ

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