piwik no script img

Interview zum Behindertensport„Hauptsächlich kriegsversehrte Männer“

Nach dem Krieg trieben allenfalls Männer mit Kriegsverletzungen Sport als Therapie. Frauen spielten keine Rolle, Menschen mit geistiger Behinderung wurde mit Abscheu begegnet

Eine Frau mit Behinderung im Leistungssport (hier Vanessa Low): nach dem Krieg unvorstellbar. Foto: Jens Büttner/dpa
André Zuschlag
Interview von André Zuschlag

taz: Herr Schlund, wie schaute die westdeutsche Gesellschaft in den 1950ern und 60ern auf den Behindertensport?

Sebastian Schlund: Den, wie es damals noch hieß, „Versehrtensport“ hat damals kaum jemand wahrgenommen. Diejenigen, die ihn betrieben hatten, waren hauptsächlich kriegsversehrte Männer. Für sie war der Sport eine Art Schutzraum, in dem sie unter sich bleiben konnten. Das war beinahe schon eine Selbsthilfegruppe, denn da steckte ganz stark ein zeittypisches Schammotiv drin. Andererseits wollte die Gesellschaft die Kriegsversehrten nicht im Alltag sehen, denn das bedeutete eine Erinnerung an den Krieg.

Der Behindertensport wurde aber schon von Anfang an öffentlich gefördert. Warum?

Ja, das hatte aber eine zweckdienliche Funktion. Behindertensport wurde als therapeutische Maßnahme angesehen, um die Kriegsopfer wieder erwerbsfähig zu machen. Die staatliche Finanzierung hatte also in erster Linie ein ökonomisches Motiv.

Im Interview: Sebastian Schlund

33, Historiker, gewann mit seiner im August erscheinenden Dissertation „‚Behinderung‘ überwinden? Organisierter Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland (1950–1990)“ den diesjährigen Deutschen Studienpreis.

Mit welchen Sportarten ging es los?

Vor allem mit Schwimmen, weil die Medizin darin einen therapeutischen Nutzen sah. Ansonsten waren es noch leichtathletische Disziplinen, aber auch Kegeln und, in Bayern, Krückenskilauf. Besonders die letzten beiden Sportarten wurden anfangs kritisch gesehen. Konnte man Kegeln noch als therapeutisch oder zweckdienlich betrachten, wenn es doch dabei vielleicht eher um die Geselligkeit bei Bier und Zigarette ging? Und besteht beim Skifahren nicht eine hohe Verletzungsgefahr? „Macht euren Körper nicht noch mehr kaputt!“, war die aus heutiger Sicht natürlich zu kritisierende Ansage. Von selbstbestimmter Freizeitgestaltung konnte noch keine Rede sein. Wie gesagt, es ging vorrangig um eine ökonomische Wiedereingliederung.

Wie sah es mit Leistungssport aus? Gab es richtige Wettkämpfe?

Leistungssport war verpönt, Wettkämpfe wurden stark eingehegt. Höchstens gab es „Versehrtensporttreffen“, bei dem es nur Sieger – erster, zweiter, dritter und so weiter – gab, so wie man es von den Turnern kannte. Meisterschaften gab es erst ab den 1970ern, als auch die Sozialwissenschaften und eine wissenschaftlich begleitete Behindertenpolitik die Chancen des Sports als Integrationsmotor erkannten. Da begann ein großer Wandel, sodass behinderte Menschen auch viel freier entscheiden konnten, welchen Sport sie betreiben wollen.

Hatten auch geistig behinderte Menschen Zugang zu Behindertensportvereinen?

Denen begegnete man fast schon mit Abscheu, was sich auch erst ab den 80er-Jahren zu ändern begann. Menschen mit geistiger Behinderung haben lange keinen Platz in den Behindertensportvereinen gefunden. Diese waren jahrzehntelang von den Kriegsversehrten der ersten Stunde dominiert worden. Es herrschte eine klare Hierarchie in den Vereinen, die sich an drei Kriterien entwickelte: Erstens, die Frage nach den Ursachen. Personen, deren körperliche Beeinträchtigung nicht auf eine Kriegsverletzung zurückging – sogenannte Zivilbehinderte – wurden marginalisiert. Zweitens betraf dies Frauen. Drittens dann war die Art der Behinderung, also ob geistig oder körperlich, von Bedeutung. Erst in den 1970ern entstanden sogenannte Inte­grationssportgruppen, die als Reaktion auf die Ausgrenzung zu sehen sind. Auch die Gründung des Special Olympics Deutschland 1991 fällt in diese Entwicklungsphase.

Wie entwickelte sich der Behindertensport im Norden Deutschlands?

Einerseits dominierten die Kriegsversehrten etwa in Schleswig-Holstein die Vereine sehr lange. Da gab es sehr enge Verbindungen zu Kriegsopferverbänden. In Hamburg allerdings gründete sich mit der „Integrationssportgruppe City Nord“ in den 80er-Jahren ein Verein, der Vorurteile aufzubrechen versuchte. Das fand in der Folgezeit viele Nachahmer.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Die eigentliche Aussage, dass in den "Versehrtensportvereinen" lange Zeit nur die "Kriegsbeschädigten" das Was und Wie bestimmten, kann ich nur bestätigen.

    Diese mussten erst altersbeding abtreten, bis sich dort etwas geändert konnte.

    Als ich Ende der 1960iger Jahre als fast noch Kind das Schwimmen für mich entdeckte, (beim auch damals weitgehend nazifreien DLRG Schwimmen gelehrnt), wurde mir auch von gutmeinenden Ärzten der "Versehrtensport" empfohlen. Hingegangen bin ich nur einmal. Alles, was Herr Schlund beschreibt, trifft zu! Braune Gesinnung war Pflicht, als "Zivilgeschädigter" und dann auch noch jung, hatte ich dort nichts zu suchen, und das gab man mir deutlich zu verstehen.

    Ich bin dann beim Leistungssport der "Normalen" gelandet und hatte dort nie nennenswerte Vorurteilen oder Ablehnung erlebt. Es zählte allein meine sportliche Leistung und mein persönliches Verhalten. Zum Spitzensportler hat es bei mir nicht gereicht, doch mehr erreicht als im "Gettosport" hatte ich dort schon.

    Ich bin froh, dass heute der Behindertensport eine andere Wertschätzung bekommt. Wie schon gesagt, dazu musste erst eine komplette Generation herauswachsen.

  • Ok - ok - nochens

     

    Für deutlich Nachgeborene -

    Mal ergänzend backfrisch einer aus der Mailtüte -

     

    "Mit Schlunds: " Andererseits wollte die Gesellschaft die Kriegsversehrten nicht im Alltag sehen, denn das bedeutete eine Erinnerung an den Krieg. " kann ich auch gar nichts anfangen. Die Versehrten und die Erinnerung an den Krieg waren überall und alle sprachen vom Krieg. Mindestens bis Mitte der 1960er.

    Stellt sich wirklich die Frage nach den Quellen des Jung-Historikers. Mangelt ihm wohl an Zeitzeugen.

     

    In jedem Kaufhaus wurde der Fahrstuhl von einem Armamputierten bedient. Selbstfahrer kam später. Von unserem Flakhelferlehrer hatte ich ja kürzlich erzählt. Wir hatten auch Lehrer mit Arm- und Beinprothesen. Die meisten erzählten, wenn überhaupt, die "lustigen" Anekdoten aus dem Krieg, aber es kam auch vor, dass es unvermittelt aus einem Lehrer hervor brach und er sich von der Seele redete, wie er einmal vor der Front als Späher einem russischen Soldaten Pistole gegen Pistole gegenüberstand - und es hat nur einer überlebt: "Er oder ich." Wörtliches Zitat. Bleibt hängen, bei einem damals Vierzehnjährigen."

    &

    Ich ergänz mal - ein Turnlehrer mit Kugel am Armstumpf - am Reck!

    Ein Griechischlehrer - ein Bein Vollprothese - dem bei 4-Std-Arbeiten in der 2. Pause mal eben ne Packung Metnholies geholt wurde - die er dann halb aus dem Fenster gelehnt gierig sich reinzog!

    Ein "Jambus" ("eins/zwei" wg steifem Knie) auch "Panzer-Schulze" Genannter - der seinen miesen Ruf bei Neuübernahme Deutsch/Geschichte mit dem

    Schwarz-braunen Satz untermauerte

    "Im Gegensatz zu einigen anderen Kollegen - lege ich keinen Wert darauf beliebt zu sein!"

    Der Unterricht war dann danach.

    Größter Säger der Penne,

    usw usf - & Das an allen - auch den

    Höheren Lehranstalten!

    Es wurde viel & aufgetunt - auf

    Haltung bis zackig gemacht!

     

    Gesamtgesellschaftlich -

    Eher - signifikant - ja ubiquitär!

     

    kurz - Der hier aufgespießte Satz -

    Sorry. Aan Schmarrn - reine Kopfgeburt!

  • Das übrige mag ja richtig sein.

     

    Aber "…Andererseits wollte die Gesellschaft die

    Kriegsversehrten nicht im Alltag sehen,

    denn das bedeutete eine Erinnerung an den Krieg.…"

     

    Als gerade noch Kriegskind - mit 6 Jahre

    SBZ/DDR - sodann SH - Hessen NRW wohnhaft -

    Frag ich mal den Autor mit 33 Lenzen:

    "Wo haben Sie das denn her? & Wie sollte das denn gehen?" -

    Meiner erinnerten Wahrnehmung der gesellschaftlichen

    Öffentlichkeit entspricht das jedenfalls nicht!

    Da mag es regional / Stadt/größe/Land -

    Große Unterschiede gegeben haben.

    Aber industriell geprägte Regionen wie's Ruhrgebiet - etc

    Waren schon dadurch "versehrtenlastig".

    Auch gehörten in den Familien vieler Kriegsheimkehrer/versehrten

    Die Verwundeten/Versehrten des WK I immer noch zur

    Familienlegende.

     

    M.E. verbirgt sich hinter dieser Einschätzung hier -?

    Die unkritische Übernahme der sich mit der

    Marginalisierung der Arbeitersportbewegung

    einhergende bis heute fortdauernde "Sieg" der

    Bürgerlichen vorrangig leistungssportorientierten

    Sportbewegung.

    Organisatorisch gezielt durch exNazi-Sportführer wie

    Carl Diem etc abgesichert durch die Trennung in

    Fachverbände (mit intern. Startrecht=Leistungssport) &

    den Landessportbünden.

    Darin mag nur schwer Raum für Versehrten/Behindertensport

    Gewesen sein. Das - halt ich für leicht nachvollziehbar.

    Hier aber die Leistungsportorientierung & ihre ideologischen Folgen -

    Als - offensichtlich unhinterfragten - Motor der Emanzipation aus dem

    Hut zaubern - läßt mich denn doch stutzen.

     

    (Um das Ausmaß der Entwurzelung des Sports außerhalb!

    Der bürgerlichen Sportbewegung - Durch die Marginalisierung

    Durch das 12tsd.Jährige & post WK II deutlich zu machen -

    Der gesamte DSB erreichte erst in den 70ern!!

    Die Mitgl.Zahlen der Arbeitersportbewegung - allein!! -

    Vor dem Dritten Reich!)

    • @Lowandorder:

      ps einen kleinen Einblick Orientierung "des" Sports - in die

      "Gemengelage" der Org&Verbandsstrukturen &

      Deren "Verwerfungen" über die Zeit &

      Ihre politischen Umbrüche läßt sich am

      Beispiel - Rad- und Kraftfahrerbund Solidarität - ablesen. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Rad-_und_Kraftfahrerbund_Solidarit%C3%A4t

      • @Lowandorder:

        Bestellen Sie sich doch die Dissertation des Herrn Schlund, dann können Sie herausfinden, "woher" dieser 33-jährige diese Rückschlüsse zieht.

        • @Festicus:

          Eine Diss. über "Der Ziegelbrenner"

          - die allerdings excellent ist -

          Kam mir antiquarisch unter.

          Damit soll's sein Bewenden haben.

           

          (& mit der "Ecke" hab ich mal des

          Viel zu - Langen&des vollBreiten -

          Meine Zeit verschwendet -

          kurz - Sorry. Nej tak!;)((