Interview zu Migration: Schweinshaxe auf der Autobahn
Sezen Tatlici kämpft mit ihrem Verein "Typisch Deutsch" dafür, dass Begriffe wie "Integration" aus dem Sprachgebrauch verschwinden.
taz: Frau Tatlici, Ihr Verein heißt „Typisch Deutsch“. Was ist denn für Sie typisch deutsch?
Sezen Tatlici: Jetzt meinen Sie vermutlich Dinge wie Schweinshaxe oder Socken in Sandalen oder das Rasen auf der Autobahn. Für mich sind das nur Klischees. Ich habe eine Weile in den USA gelebt. Die Leute dort waren immer total irritiert, dass ich aus Deutschland komme – mit meinem Namen und meinem Aussehen. Und dass ich mich eben auch als Deutsche bezeichne. Sie haben mir Videos vom Oktoberfest gezeigt und gesagt: „Das ist Deutschland“. Ist es aber eben nicht! Das sind Bilder, die im Ausland für Deutschland gehalten werden.
Sie sind in Deutschland geboren, haben hier die Schule besucht und studiert, Sie arbeiten hier. Sind Sie ein Paradebeispiel für gelungene Integration?
Die Frage, ob ich „integriert“ bin, stellt sich mir gar nicht. Ich lehne das Wort Integration sogar vollkommen ab. Denn es beinhaltet, dass ich mich in etwas einfügen soll, zu dem ich eigentlich nicht gehöre. Ich habe türkische und arabische Wurzeln, aber ich lebe hier, ich bin hier geboren. Ich bin schon Deutsche. Neudeutsche, um genau zu sein.
Ich habe nur deutsche Vorfahren. Macht mich das demnach zu einer Altdeutschen?
Nach unserer Definition ja.
Da fühle ich mich ja wie ein Auslaufmodell.
(lacht) Wir akzeptieren auch den Begriff „Urdeutsche“. Wir wollen bestimmt niemanden ausschließen, der Großteil unserer Mitglieder ist sogar urdeutsch.
28, hat türkische und arabische Wurzeln und lebt in dritter Generation in Schöneberg. Sie ist die älteste von vier Geschwistern. Sie studierte Business Administration in Berlin, lebte danach eine Zeitlang in den Vereinigten Arabischen Emiraten und absolvierte ein Management-Traineeprogramm in den USA. Als Assistentin im Bundestag begleitete sie Otto Schily in den Ruhestand. Heute ist sie Assistentin der Geschäftsführung bei Arvato Bertelsmann. 2010 gründete sie mit Freunden den Verein Typisch Deutsch, dessen Vorsitzende sie heute ist.
Typisch Deutsch e. V. hat Mitglieder jeglicher Herkunft, Religion und Kultur. Zu den wichtigsten Zielen des Vereins gehört eine Neudefinition des Begriffs "Deutschsein", der in Folge auch "Neudeutsche" umfassen soll: Menschen, die ausländische Wurzeln haben, aber hier geboren sind. Im Fokus der Vereinsarbeit steht der Dialog mit Schülern der Sekundarstufe. Ältestes Mitglied ist ein 83-jähriger Altdeutscher.
Warum legt Typisch Deutsch so viel Wert auf Begrifflichkeiten?
Wir glauben alle, dass Worte Macht haben. Dann gibt es zum einen Leute bei uns im Verein, die auf ihre Wurzeln sehr viel Wert legen. Zum anderen ist das ein Schlüsselmoment bei unserer Arbeit mit Schülern. Wir fragen sie: „Wo ist euer Lebensmittelpunkt? Wenn die Antwort Deutschland lautet, seid auch ihr Deutsche. Nicht ’Jugendliche mit Migrationshintergrund‘ oder gar ’Ausländer‘, nein: Neudeutsche.“
Wie reagieren die Schüler?
Oft mit Erleichterung und Staunen. Sie sagen: „Ach, wir gehören auch zur Gesellschaft?“ Viele haben vorher die Erfahrung gemacht, dass sie anders werden müssen oder etwas Besonderes tun müssen, um hier problemlos leben und später arbeiten zu können. Sie fühlen sich ungeliebt und ungewollt. Wenn wir ihnen sagen: „Ihr gehört doch längst dazu“, hat das eine ungemein positive Wirkung auf ihr Selbstverständnis.
Wie genau sieht Ihre Arbeit aus?
Im Kern ist es der Dialog mit Schülern, hauptsächlich Sekundarschülern. Für die „Deutschstunde“ gehen wir dorthin, wo es wehtut. Also an die sogenannten Problemschulen, in Schöneberg oder in Neukölln. Wir sind dann immer zu dritt. Zum Beispiel ich, ein altdeutsches Mitglied und Pastor Joshua, seine Eltern kommen aus Ghana und dem Kongo. Wir möchten für möglichst viele Schüler eine Identifikationsfigur bieten.
Und dann wird ein Vortrag gehalten?
Wir spulen keinen Standardtext ab und gehen wieder. Es geht ja um Dialog. Vor allem hören wir den Schülern zu und erklären unsere Definition von Deutschsein. Das ist der Wegbereiter für unser nächstes Ziel, nämlich dass die Kinder Verantwortung übernehmen. Zum einen natürlich für ihr eigenes Leben, ihre schulischen Leistungen, ihre Ausbildung. In der neunten oder zehnten Klasse ist das ja ein großes Thema. Aber wir wollen auch, dass sie sich aktiv in die Gesellschaft einbringen. Das fängt im Kleinen an. Wir fordern Sie zum Beispiel auf, dass sie ihren Kiez sauber halten oder dass sie ein Ehrenamt übernehmen.
Mit Erfolg?
Definitiv. Wir bekommen so viele positive Reaktionen. Auch von den Lehrern. Die sagen: „Wie ihr die Schüler an einem Tag motiviert habt, das habe ich jahrelang nicht erreichen können.“
Wissen Sie, ob Ihre Besuche wirklich nachhaltig auf die Schüler wirken?
Wir ernennen jetzt schon in jeder Klasse „Botschafter“ für unsere Sache und arbeiten gerade daran, im Anschluss regelmäßig mit ihnen in Kontakt zu treten. Aber unsere Mitglieder arbeiten alle ehrenamtlich im Verein, eine Förderung gibt es nicht. Wir wollen niemanden verheizen.
So einfach ist das mit der Identität ja nicht. 2010, bei einem Fußballspiel Deutschland – Türkei, schallte dem deutschen Nationalspieler Mesut Özil im Olympiastadion ein Pfeifkonzert entgegen. Viele türkische Zuschauer sahen es nicht gern, dass er für Deutschland spielte.
Diese Reaktion fand ich sehr schade. Ich liebe unsere deutsche Nationalelf, in der Spieler mit so unterschiedlichen Wurzeln vertreten sind. Die Mannschaft steht schon jetzt für das Deutschland, für das ich kämpfe: Alle haben ein Ziel, gehen gemeinsam darauf zu und helfen sich dabei gegenseitig.
Aber es hat viele irritiert, dass die türkischen Fans gar nicht den Eindruck erweckten, sich mit Deutschland identifizieren zu wollen.
Dazu möchte ich eine Geschichte erzählen: Ein Junge versucht bei einem Mädchen zu landen, aber das lässt ihn abblitzen. Darauf sagt der Junge seinen Freunden: „Die wollte ich doch eh nicht wirklich haben.“ Verstanden?
Ich bin mir nicht sicher.
Wie gesagt, oft haben Neudeutsche schon viel Ablehnung erfahren müssen und konzentrieren sich gerade deswegen so stark auf ihre Wurzeln. Damit sind sie automatisch Teil einer Gemeinschaft, die sie sonst nirgends finden. Wer möchte schon ein Außenseiter sein?
Sollten sich denn wirklich alle Migranten als Deutsche begreifen? Ist es nicht auch in Ordnung, sich nicht als Deutscher zu sehen, sondern etwa als Türke, der in Deutschland wohnt?
Ich habe doch gar nichts dagegen, wenn sich jemand als Türke bezeichnet! Und aktives Mitglied dieser Gesellschaft ist. Die Kernbotschaft unseres Vereins lautet: Solange jemand seinen Lebensmittelpunkt hier hat, sollte er diese Gesellschaft gemeinsam mit uns allen gestalten!
Das klingt nach einem „aber“ …
Ja, man muss unterscheiden zwischen Jugendlichen, die hier geboren und aufgewachsen sind und Menschen, die im Laufe ihres Lebens hergekommen sind. Nochmal: Die Jugendlichen, die sagen, dass sie Türke sind und nicht Deutscher, die sagen das fast immer aus einer negativen Stimmung heraus. Weil sie das Gefühl haben, die deutsche Gesellschaft will sie gar nicht. Für diese Kids ist es oft wie ein Befreiungsschlag und ein Motivationskick, dass sie sich auch als Deutsche bezeichnen und damit zugehörig fühlen können. Und das Wort „Neudeutsch“ drückt aus, dass sie ihre Wurzeln nicht ablegen oder verleugnen sollen sondern, dass ihre Herkunft immer ein wichtiger Bestandteil in ihrem Leben sein wird.
Ist Ihnen selbst auch schon Ablehnung begegnet?
Ja. Mir wurde zum Beispiel als Schülerin gesagt, dass ich nie Abitur machen würde. Aber vor allem der Wirbel um das Sarrazin-Buch hat mich extrem sensibilisiert. Seitdem erlebe ich immer wieder Situationen, in denen man mir suggeriert, dass ich Außenseiterin bin. Die Debatte war übrigens der Auslöser für die Gründung des Vereins.
Wie das?
Wir Gründungsmitglieder fanden, es sei nun endlich an der Zeit, etwas Positives dagegenzuhalten. Damals war so viel Mist zu lesen. Mit dem Verein haben wir einen Weg gefunden, die Wut über die Sarrazin-Debatte in positive Handlungen zu kanalisieren, was ja auch gut funktioniert. Aber seit ich Sarrazin persönlich getroffen habe, habe ich sowieso das Gefühl, dass mich nichts mehr umhauen kann.
Sie haben ihn getroffen?
Ich bin ihm auf einer Veranstaltung begegnet. Im ersten Moment war ich wirklich sehr aufgeregt. Aber wir haben uns eine Weile unterhalten und ich habe ihm mitgeteilt, dass ich durch seine Äußerungen sehr gekränkt war. Ich habe ihm auch gesagt, dass ich nicht will, dass Deutschland sich abschafft. Ich lebe schließlich hier! Natürlich habe ich ihm von Typisch Deutsch erzählt und er hat durchaus interessiert zugehört. Zum Schluss habe ich ihn zu einer unserer Veranstaltungen eingeladen.
Wie hat er reagiert?
Er hat gesagt, er kommt.
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