Interview mit chinesischem Künstler Ai: "In China hilft der Nobelpreis nichts"
Einige Dissidenten wie Liu seien zu elitär und hätten den Bezug zu den Menschen in China verloren, kritisiert Ai. Er erzählt, welche Formen von Opposition in China wichtig sind.
taz: Herr Weiwei, befördert der Nobelpreis für Liu Xiaobo die Menschenrechten in China?
Ai Weiwei: Der Preis sendet nur ein Signal aus: Er zeigt, welche Werte es jenseits von China gibt. Das zu wissen ist wichtig für junge Leute hier. Das stärkt den Respekt für universelle Werte. Doch weil China nie eine offene Diskussion darüber zugelassen hat, wer Liu ist und wofür er kämpft, verstehen hier nur wenige, was vor sich geht. Das ist eine Schande. So ein Preis wird in China aber nichts zu den Menschenrechten oder zur Demokratisierung beitragen, weil diese hier nur aus der täglichen Praxis kommen können. Damit meine ich Freiheiten, die hier die Menschen im alltäglichen Leben beschäftigen und nicht nur irgendein Manifest sind.
Was halten Sie denn vom Reformappell "Charta 08", den Liu Xiaobo mitveröffentlicht hat?
Solche Manifeste kommen selbst aus einer kulturellen Elite, die normalerweise keine Verbindung zum täglichen Überlebenskampf der Menschen hat. Das ist das Problem der Charta 08. Die Gruppe um Liu, welche die Charta verfasste, besteht vor allem aus Akademikern, die sich nicht wirklich darum sorgen, was im schwierigen Alltag der Menschen passiert, wie etwa kürzlich das Großfeuer in Schanghai, das Erdbeben in Sichuan 2008 oder die Bergbauunglücke. Solche Probleme werden nicht allein durch Demokratisierung beseitigt, sondern müssen direkt angegangen werden. Die großen politischen Fragen dagegen sind für die Menschen zweitrangig, dafür haben sie im Alltag keine Zeit.
Sie interessieren sich für die Namen der Toten von Schanghai? Warum sind die wichtig?
Schon 2008 nach dem Erdbeben in Sichuan haben wir gemerkt, dass die Regierung die Namen von Toten verschweigt, selbst bei einer Naturkatastrophe. Sie erklärten die Namen zur Geheimsache. Wir haben deshalb selbst Listen erstellt von 5.000 Schülern, die ums Leben kamen, als ihre schlecht gebauten Schulen einstürzten. Wir konnten Namen, Geburtsdaten und Schulkassen herausfinden. Das war wie ein Wunder. Wir erhielten viel Unterstützung in der Bevölkerung. Die Regierung hingegen sperrte meine Blogs. Später wurde ich von der Polizei verprügelt und musste in München im Krankenhaus operiert werden.
Warum verschweigen die Behörden jetzt die Namen der Opfer in Schanghai?
In Schanghai wurde zur Entschuldigung gesagt, ein Drittel der Angehörigen wollte die Namen nicht veröffentlicht sehen. Das ist typisch für die Regierung. Die Namen sind wichtig: Ohne sie lässt sich nie wirklich klären, wer für das Feuer verantwortlich ist, wie viele Menschen dabei starben und wie ihre Angehörigen zu entschädigen sind. Die Namen der Toten sind wichtiger als die Zahl. Wir trauern ja nicht um Zahlen, sondern um Menschen. Mit Namen verbinden wir Lebensgeschichten und können so auch die Gesellschaft verstehen. Ohne Namen geht es nicht.
Wenn die politischen Forderungen für den Alltag unwesentlich sind: Warum die harsche Reaktion der Führung?
Die Regierung hat nicht sehr hart reagiert - außer in Lius Fall. Zehntausend Menschen haben die Charta unterzeichnet, einer wurde zu Gefängnis verurteilt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Liu verdient keinen einzigen Tag in Haft, aber eine harte Reaktion auf seine Ideen und gegen seine Unterstützer sähe anders aus. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass derzeit in China immer wieder Menschen unter Arrest gestellt oder ins Gefängnis geworfen werden. Die Reaktion der Regierung ist nicht umfassend, sondern dumm.
China fordert nun von anderen Regierungen, keine Vertreter zur Nobelpreiszeremonie zu schicken.
Das zeigt, dass die Regierung nicht sehr intelligent damit umgeht.
Von außen sieht es so aus, als sei Chinas Regierung restriktiver geworden. Trifft das zu?
Die Regierung ist restriktiver geworden, aber gleichzeitig haben wir mehr Freiräume: Zum einen durch das Internet, zum anderen weil das Verständnis über Grundwerte gewachsen ist und die Menschen, vor allem die jungen, heute weniger ängstlich sind. Als ich kürzlich unter Hausarrest gestellt wurde, folgten trotzdem 800 Menschen der Einladung zu meiner Party aus Anlass des umstrittenen Abrisses meines Ateliers in Schanghai. Die Menschen stehen nicht aufseiten der Regierung, sondern sind heute viel unabhängiger und weniger ängstlich.
Wie geht es mit Ihrem Atelier weiter?
Ai Weiwei ist Chinas bekanntester zeitgenössischer Künstler und einer der originellsten Regimekritiker. Der Konzeptkünstler und Kurator wurde 1957 in Peking geboren. Er verbrachte seine Jugend in abgelegenen Regionen, wohin sein in Ungnade gefallener Vater, der Dichter Ai Qing, verbannt worden war. Nach der Kulturrevolution gründete Ai Weiwei als Filmstudent Ende der 70er Jahre die Künstlergruppe "Sterne" mit, die sich gegen staatliche Bevormundung auflehnte. Von 1981 bis 1993 lebte er in den USA und schloss in New York ein Kunststudium ab. Zurück in Peking eröffnete er eine Galerie für experimentelle Kunst und nimmt seitdem immer wieder zu politischen Fragen Stellung, in letzter Zeit vor allem durch Blogs. In Deutschland wurde er 2007 durch seine Beiträge für die documenta 12 in Kassel bekannt. Auch war er an der Gestaltung des "Vogelnest" genannten Pekinger Stadions für die Olympischen Spiele 2008 beteiligt, deren Eröffnung er aber fernblieb. Im August 2009 wurde er in Sichuan, wo er sich für Erdbebenopfer einsetzte, von Polizisten verprügelt und musste deshalb später in München wegen Gehirnblutung operiert werden. Anfang November 2010 wurde er kurzzeitig unter Hausarrest gestellt, nachdem er aus Protest gegen den angeordneten Abriss seines Schanghaier Studios zu einer Party eingeladen hatte. Am 2. Dezember wurde er auf Pekings Flughafen an einer Reise nach Südkorea gehindert, offenbar aus Angst, er könnte nach Oslo zur Nobelpreisverleihung reisen. (han, li)
Die Behörden beharren weiter darauf, dass es weg muss. Sie sagen, sie wollen mich dafür auf Heller und Pfennig entschädigen - sogar mehr, als ich für den Bau ausgegeben habe. Aber mir geht es nicht um das Geld, ich will das Gebäude behalten. Ich will wissen, warum es zerstört werden soll. Ich will die Wahrheit wissen. Sie haben mich vor den Olympischen Spielen 2008 eingeladen, ein Kulturprojekt zu entwickeln. Wir haben zwei Jahre lang an dem Entwurf gearbeitet, wir haben ein Programm für Künstler geplant, die zeitweise in dem Gebäude leben und arbeiten sollten. Plötzlich sagen sie: Es geht nicht, Anweisung von oben, wir können nichts machen, wir zahlen Ihnen, was immer Sie dafür verlangen.
Was waren das für Leute, die zu Ihrer Abriss-Party gekommen sind, obwohl Sie selbst im Hausarrest waren?
Das war ein Ausschnitt aus der Gesellschaft. Ich war selbst sehr überrascht darüber, darunter waren sechzig-, siebzigjährige Anwälte ebenso wie Mittelschüler. Die Polizei bestellte sie zum "Teetrinken" ein.
Eine Umschreibung für polizeiliche Verwarnung.
Darunter waren Leute, die sich seit Jahren für die Bürgerrechte einsetzen, und andere, die mich einfach nur bitten wollten, ein Poster von mir zu signieren.
Sind dies Zeichen, dass sich in der chinesischen Gesellschaft etwas bewegt?
Mein Studio in Schanghai liegt in einem schwer zu erreichenden Gebiet, man findet es nur auf Google-Maps. Und es gab Leute, die drei Tage mit dem Zug gereist sind. Die haben ihre kleine Tochter mitgebracht, um Gleichgesinnte zu treffen und dann wieder zurückzufahren. Wenn die Party ganz offen hätte stattfinden können, dann wären über zehntausend Menschen gekommen. Daran können Sie leicht erkennen, dass etwas in der Luft liegt. Die Leute spüren, wie lächerlich das ist, und wollen zeigen, dass sie den Wandel wollen. Obwohl die Party abgesagt wurde, kamen immer noch achthundert Leute. Ich war erstaunt. Auch später kamen Tag für Tag immer noch fünfzig Leute.
Die Regierung wird nicht mehr so sehr ernst genommen?
Die Leute beginnen, ihre Freiheiten als etwas Selbstverständliches zu akzeptieren, und sie sehen, wie unfähig die Regierung ist.
Aber viele Menschen - besonders außerhalb Ihres Landes - bewundern China für seinen wirtschaftlichen Erfolg. Ist das nicht ein Widerspruch zur Lage im Land?
Das scheint ihnen so, weil der Westen schwächer wird, wirtschaftlich und von seinen eigenen Wertvorstellungen her. Sie sprechen von China wie von ihrer Hausangestellten: "Sie mal, sie arbeitet so fleißig, Tag und Nacht!" Sie merken, dass sie ohne China viel schlechter leben würden. Die Chinesen sind die Arbeitskräfte der Welt. Denken Sie nur an die deutschen Autos. Denken sie an all die Geschäftsdeals. Sie brauchen China, um zu überleben. Natürlich ist China sehr effizient, denn es ist eine autoritär regierte Gesellschaft, deren Menschen die Opfer dafür bringen. In einer kleinen Stadt in der Provinz Guangdong verlieren 40.000 junge Menschen ihre Finger bei Arbeitsunfällen, das sollte man nicht als Erfolg bezeichnen. Die Umweltverschmutzung ist enorm. Ich glaube, der Westen tut nur so, als ob er es nicht sieht.
Tut der Westen genug für die Unterstützung der Menschenrechte in China?
Es geht nicht nur um die Menschenrechte in China. Der Kampf für die Menschenrechte ist ein tausendjähriger Kampf für die Zivilisation in der ganzen Welt, und es geht stets um den Schutz universeller Werte. Wer sie verletzt, sollte kritisiert und boykottiert werden. Die Menschenrechte sind kein Gefallen, den uns der Westen tut. Sie sind kein Schatz, den der Westen besitzt. Es sind Werte, die nicht aus wirtschaftlichen Interessen verhökert werden dürfen.
Welche Folge hat Chinas neue Stärke? Politiker und Geschäftsleute im Ausland fürchten sich jetzt mehr als früher, die Pekinger Regierung zu verärgern.
Das ist eine sehr traurige Entwicklung. Die demokratischen Gesellschaften verlieren ihre geistige Stärke, sie verneigen sich vor einer Gesellschaft, die keinen Respekt vor diesen grundlegenden Werten zeigt - das ist wirklich beschämend. Wer darauf vertraut, dass sich China international verantwortlich verhalten wird, ist sehr naiv. Dies ist ein kommunistischer Staat, der es seinem Volk sechzig Jahre nach seiner Gründung immer noch nicht erlaubt, zu wählen. Der keine einzige unabhängige Zeitung zulässt, und in dem es keine einzige Gerichtsverhandlung gibt, in der die Justiz nicht von der Politik manipuliert wird. Was ist denn das für eine Gesellschaft, mit der Sie es da zu tun haben? Das ist doch verrückt.
Welche Rolle sollte ein Künstler in einer solchen Gesellschaft spielen?
Jeder Mensch, Künstler oder nicht, muss für seine Rechte kämpfen, das ist ganz wesentlich. Als Künstler sollte ich fähiger sein, mich auszudrücken, ich sollte umso fester an die Meinungsfreiheit glauben. Ich muss eine Form schaffen, die es mir erlaubt, mich auszudrücken und mit anderen zu kommunizieren. Wenn ich das nicht tue, was bin ich dann für ein Künstler? Wir müssen unser Recht, uns frei auszudrücken, schützen, nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere, für eine bessere Gesellschaft. Kunst sollte der Gesellschaft nutzen. Künstler bauen keine Nahrungsmittel an, sie stellen keine Textilien her, sie produzieren eigentlich nichts - aber sie können dennoch ihre Funktion für eine bessere Gesellschaft haben.
Teilen viele Ihrer Kollegen diese Ansicht?
Nein, ich stehe oft ganz allein in diesem Kampf. Ich habe das Gefühl, dass ich in einem tiefen Tunnel stecke. Meine Ideen und Werte werden von meinen Künstlerkollegen weniger akzeptiert als von jüngeren Menschen. Jugendliche um die zwanzig, dreißig, die haben weniger Barrieren, sie verstehen sehr gut, was ich tue.
Nicht die älteren, die unter den politischen Kampagnen der KP gelitten haben?
Nein, es sind die Jungen: Die merken, warum sie im Internet keine Information über mich finden, wenn sie meinen Namen eintippen. Plötzlich fällt ihnen auf: Da ist diese interessante Person, ein Künstler, warum kann ich auf chinesischen Webseiten nichts über ihn erfahren? Es braucht nicht viel, um aus einer ganz normalen Person jemanden zu machen, der sich für seine Rechte einsetzt - das dauert manchmal nur eine Sekunde.
Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie mit Ihren Aktionen nur Aufmerksamkeit erregen wollen, um den eigenen Marktwert zu steigern.
Das ist kein Problem: Jeder sollte für sich selbst werben - es hängt nur davon ab, was man vermarkten will, welchen Inhalt. Solche Kritik zeigt nur, dass ich ganz erfolgreich mit dem bin, was ich tue. Vermarkten? Hören Sie: Die Generation meiner Eltern hatte nicht das Recht, ihre Meinung zu sagen, für einen einzigen Satz wurden sie für zwanzig Jahre in die Verbannung geschickt. Meine ganze Familie musste leiden: Mein Vater war im Gefängnis, ich war in der Verbannung. Schon in den siebziger Jahren habe ich die die erste unabhängige Künstlerbewegung, die Gruppe "Sterne" mitgegründet. Dann ging ich in die Vereinigten Staaten, dort habe ich studiert. Ich habe Untergrundliteratur herausgegeben, eine erste Art-Space geschaffen, im Jahr 2000 meine erste Kunstshow "Fuck-off" kuratiert. Man kann sagen, das ist Selbstvermarktung, aber eine Vermarktung von Menschenrechten, eine Vermarktung der Redefreiheit: Ich glaube nicht, dass ich mich dafür schämen sollte.
Welche Zukunft sehen Sie für sich?
Ich habe keine Zukunft. An diesem Morgen bin ich aufgewacht und habe mir gedacht, das wird wieder ein anstrengender Tag. Und dann habe ich gedacht, vielleicht wird heute jemand an die Tür klopfen und sagen: Wir müssen Sie stoppen! Man vermarktet sich nicht selbst, indem man sich diese Art von Gesellschaft aussucht. Die Blutung in meinem Gehirn hat mich dem Tode nahe gebracht.
Die Folge von Polizeischlägen in Sichuan.
Jeder weiß, dass das, was ich tue, sehr gefährlich ist, meine Familie, meine Freunde sagen es mir. Sogar die Geheimpolizisten kommen zu mir und sagen, wir finden gut, was du tust, aber wir müssen dir sagen, es ist sehr gefährlich. Man kann auswandern. Ich kann überall überleben, ich kann in allen Lebenslagen ziemlich erfolgreich sein. Aber dann würde ich die jungen Leute ohne Hoffnung lassen. Ich will nicht, dass die junge Generation dasselbe durchmachen muss, was ich erlebt habe. Für mich ist es okay. Ich bin schon so weit. Aber diese jungen Leute sollten diese Erfahrungen nicht kennenlernen müssen.
Sehen Sie die Chance auf einen Wandel?
Ja, sonst würde ich das alles nicht machen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass der Wandel jeden Moment kommen kann. Wenn sie es zulassen, dass ich diese Dinge offen diskutieren kann, dann können wir sicher sein, dass sich die Situation innerhalb weniger Monate verändert.
Andernfalls landen Sie kurz über lang im Gefängnis?
Die Medien sind merkwürdig. Einerseits sagen sie: Das ist alles so gefährlich! Andererseits fragen sie mich, warum ich noch nicht inhaftiert bin. Hören Sie: Es sitzen schon so viele Leute im Gefängnis, ohne dass sich die Leute darüber aufregen. Was aus mir wird, ist mein Problem, ich werde damit fertig werden müssen.
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