■ Interview mit Uri Avnery, Publizist und israelischer Friedensaktivist, zum Nahost-Friedensprozeß: „Versöhnung als kreativer Akt“
taz: Was sind heute, etwas mehr als ein Jahr nach Unterzeichnung des Oslo-Abkommens, die Ihrer Meinung nach wichtigsten Kritikpunkte?
Uri Avnery: Man muß zunächst zwei Aspekte voneinander unterscheiden. Einmal geht es um Punkte, die im Abkommen stehen und nicht erfüllt sind. Und dann um jene Aspekte, die im Abkommen nicht klar ausgedrückt sind, die aber zum Friedensprozeß gehören. Zunächst zur zweiten Kategorie: Die Abkommen von Oslo und in Kairo sagen nicht, was das Endziel des Prozesses ist, was meiner Meinung nach der Hauptgrund für die Stagnation ist. Man muß klar ausdrücken, daß das Endziel ein palästinensischer Staat neben Israel ist.
Das zweite Problem ist der Status Jerusalems. Es kann zu keinem Frieden kommen, wenn kein Kompromiß in der Jerusalem-Frage erzielt wird. Der offizielle Standpunkt unserer Regierung, daß Jerusalem die ewige, ungeteilte Hauptstadt Israels ist und daß die Araber keine Rechte haben an Jerusalem, ist unannehmbar. Wir müssen heute schon einen Kompromiß über Jerusalem erzielen, der so aussieht, daß Jerusalem eine vereinte Stadt mit vereinter Verwaltung ist, mit West-Jerusalem als Hauptstadt Israels und Ost-Jerusalem als Hauptstadt Palästinas.
Das dritte Problem, das verschoben wurde, ist das der Siedlungen. Für mich ist klar, daß Siedlungen nicht bestehen können im zukünftigen Palästina und man daher heute schon mit einem Abzug zu beginnen hat. Und zwar, indem man die provokantesten Siedlungen einfach auflöst, wie zum Beispiel in der Stadt Hebron. Zudem sollte man den Siedlern, die heute freiwillig zurückkommen wollen, eine Entschädigung anbieten. Es gibt eine ganze Menge unter ihnen – vielleicht sogar die Mehrheit –, die weiß und fühlt, daß diese Siedlungen keine Zukunft mehr haben.
Dann ist ein weiteres, ungelöstes Problem, das im Abkommen nicht festgeschrieben ist, die Freilassung aller palästinensischen Häftlinge. Dieses Problem stellt meines Erachtens psychologisch, moralisch und politisch im Augenblick den wichtigsten Punkt dar.
Das sind die Sachen, die nicht ausdrücklich im Abkommen stehen oder die verschoben worden sind. Aber, ich will es noch einmal sagen: ohne ein Endziel vor Augen zu haben kann man gar nicht wirklich weiterkommen.
Und was die Nichterfüllung von Verhandlungspunkten angeht?
Kernproblem ist hier die Frage der Wahlen. Sie hätten vor drei Monaten stattfinden sollen. Einen Tag vorher hätten die letzten israelischen Truppen die bevölkerten Gebiete des Westufers verlassen müssen, und schon vorher hätte die palästinensische Polizei das Gebiet übernehmen sollen. All dies ist nicht passiert, und man fängt heute erst an, Verhandlungen über die Wahlen zu führen.
Eigentlich sollten die Israelis daran interessiert sein, die Wahlen so schnell wie möglich stattfinden zu lassen, damit sich die palästinensische Selbstregierung – fälschlich Autonomie oder Selbstverwaltung genannt – stabilisiert, damit sich die Führung Jassir Arafats stabilisiert.
Nach jedem Anschlag, vor allem nach den Anschlägen der palästinensischen Islamisten, wird der Friedensprozeß totgesagt. Welches sind Ihrer Meinung nach die größten Risiken für den Friedensprozeß ?
Erstens finden eigentlich sehr wenige sogenannte Terrorakte statt. Wenn Hamas wollte, könnte die Organisation viel mehr Anschläge verüben. Sie tun es nur, um zu beweisen, daß sie noch da sind, sie tun es aber nicht in größerem Umfang, weil sie Angst haben, die Unterstützung des Volkes zu verlieren. Das Volk aber will den Frieden. Darum benimmt sich Hamas sehr vorsichtig, und da Arafat das auch weiß, versucht er auf seine Art, nicht mit polizeilichen, sondern mit politischen Mitteln, dem Terror ein Ende zu setzen. Indem er vorantreibt, die Hamas-Bewegung für die Selbstregierung zu gewinnen, oder zumindest einen Teil davon. Ich glaube, Arafats Ziel heute ist es, die Hamas zu teilen, den gemäßigteren Flügel abzutrennen vom extremeren Flügel und ihn einzugliedern. Ich hoffe, daß es ihm gelingt.
Sie haben kürzlich gesagt, daß das Oslo-Abkommen ein gewaltiger Schritt nach vorn war, daß das Gewaltige jedoch weniger im Abkommen selbst begründet liegt als in der gegenseitigen Anerkennung von PLO und Israel. Ist die offizielle Anerkennung der PLO in das Bewußtsein der israelischen Gesellschaft eingegangen?
Ja und nein. Es ist ein psychologischer Vorgang, der wie alle solch psychologischen Prozesse auf beiden Seiten reifen muß; man kann ihn offenbar nicht sehr beschleunigen.
Heute hat man sich damit abgefunden, daß es die Palästinenser gibt, daß sie existent sind und daß man mit ihnen Frieden machen muß. Auch Leute, die heute dagegen demonstrieren, wie Mitglieder der Likud-Partei, tun es eigentlich ohne wirkliche Überzeugung, sondern eher als Lippenbekenntnis.
Das war im Grunde schon vor Oslo akzeptiert, sonst wäre Oslo ja gar nicht möglich gewesen. Hunderttausende israelischer Reservesoldaten, die seit Beginn der Intifada in den besetzten Gebieten gedient haben, haben ja mit ihren eigenen Augen gesehen, daß es das palästinensische Volk gibt, und damit ist die Diskussion im Grunde erledigt worden.
Ist eine Versöhnung zwischen zwei Völkern, die von solch unterschiedlichen Ausgangspositionen herkommen, überhaupt möglich?
Möglich auf jeden Fall. Wie lange es allerdings dauert, ist fraglich und hängt auch davon ab, wie sich beide Seiten benehmen. Besonders unsere, die israelische Seite, weil sie die stärkere ist. Historische Versöhnung ist das offizielle Ziel des Abkommens. Es steht im Abkommen als Leitmotiv verankert. Versöhnung ist ein Vorgang. Politiker können die Bedingungen dafür schaffen, aber Politiker sind im allgemeinen viel zu phantasielos – unsere Politiker insbesondere und Jitzhak Rabin ganz speziell –, um Versöhnung zu ermöglichen. Es ist auch gerade die Pflicht von Gruppen wie Gusch Schalom, Versöhnung zu predigen und auch zu praktizieren, denn das vorhandene Mißtrauen kann man natürlich nicht bagatellisieren, da es auf dem tiefen Fundament der Holocaust-Erinnerungen gewachsen ist.
Versöhnung ist ein kreativer Prozeß, der stattfinden muß zwischen den Völkern, das heißt zwischen den Menschen – zwischen Schriftsteller und Schriftsteller, Lehrer und Lehrer. Ansätze dazu sind da. Und offensichtlich verträgt sich sogar ein Teil des israelischen Militärs im Gaza-Streifen sehr gut mit den palästinensischen Polizeioffizieren, die ja im Grunde auch Armeeoffiziere sind. Sie kritisieren sogar schon gemeinsam Arafat! Gespräch: Kirsten Maas
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