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Aus taz FUTURZWEI

Interview mit Öko-Bäuerin Anja Hradetzky Das ist mein Leben, kein Projekt

Bäuerin Anja Hradetzky über die Arbeit auf ihrem gepachteten Bauernhof in der Uckermark, wesensgemäße Tierhaltung und gentrifizierende Berliner Yoga-Studio-Besitzer.

Wesensgemäße Milchviehhaltung auf dem Hof Stolze Kuh in Stolzenhagen an der Oder Foto: Anja Weber

Es ist sieben Uhr morgens in der Uckermark. Anja Hradetzky ist mit Kopflampe und Gummistiefeln ausgestattet. Sie rast durch den Stall, öffnet Gatter, begrüßt die Kühe. Dann schaltet sie eine ohrenbetäubend ratternde Melkmaschine an. Eine Mutterkuh und ein Kälbchen rufen laut nacheinander. Hradetzky führt die Tiere sanft in die Richtung, in die sie gehen sollen. Im Melkstand ist Platz für sechs Tiere. Alles funktioniert reibungslos: Die Kuh nimmt ihren Platz ein, wird angeschlossen, gemolken und tritt wieder aus. Dann ist die Nächste dran. Alle Beteiligten kennen die Abläufe. Beim Interview wird geduzt.

Anja Hradetzky

35, verheiratet, zwei Kinder. Bachelor in Ökolandbau und Vermarktung an der FH Eberswalde.

Betreibt mit ihrem Mann Janusz Hradetzky, 34, seit 2014 den Hof Stolze Kuh in Lunow-Stolzenhagen an der Oder (Brandenburg).

250 Hektar Ackerfläche (30 Hektar Feldfrüchte, 110 Hektar Ackerfutter und 110 Hektar Dauergrünland. 170 Rinder (inklusive aller Jungtiere), 6 Pferde, 1 Hund.

Besonderheiten:wesensgemäße, naturnahe Milchviehhaltung (Kälber werden nicht von den Kühen getrennt aufgezogen; alle Tiere behalten ihre Hörner, Weidemelkstand, Schlachtung auf der Weide, Low Stress Stockmanship (stressarmer Umgang mit Herdentieren), eigene Käserei.

Neun Monate im Jahr (April bis Dezember) weiden die Kühe im Nationalpark Unteres Odertal.

Mehr Infos unter stolzekuh.de

taz FUTURZWEI: Wen wecken wir gerade um diese frühe Stunde, Anja?

Anja Hradetzky: Insgesamt haben wir 170 Rinder. 30 Kühe. Im Stall befinden sich zehn Kühe alter Rassen mit ihren Kälbern. Die anderen sind noch draußen. Alle Kälbchen hier wurden jüngst geboren. Alles Jahrgang 2022. Dieses Hellbraune dort, das mit dem wuscheligen Fell, kam gestern zur Welt.

Süüüüssss! Ganz schön groß!

Es hat noch nicht einmal einen Namen. Aufgrund des Stammbaums sollte er mit U anfangen.

taz FUTURZWEI-Fotografin Anja Weber: Undine!

Gut, so soll sie Undine heißen. Bevor ich die Kühe in den Melkstand treibe, schaue ich, ob alle Kälbchen satt aussehen. Wenn dem so ist, werden die Mütter gemolken. Nur die restliche Milch, die sie noch im Euter tragen, ist für den Menschen. Denn hier bleiben die Kälbchen bei ihren Müttern, sie werden nicht getrennt. Und sie trinken die Milch, die von Natur aus für sie vorgesehen ist. Normalerweise kommen sie in ein Iglu. Weißt du was das ist?

Eine Behausung der Inuit?

Nein. In der Kälberaufzucht ist weit verbreitet, die Kälbchen zu isolieren und mit Milchpulver aufzuziehen, in dem zu allem Überdruss auch noch Palmöl enthalten ist.

Eine Kuh muuht fordernd.

Ui, diese Dame macht Sperenzchen.

Das ist Olga. Sie lernt noch, wie der Weg in den Melkstand funktioniert. Irgendwann wird das für sie Routine, wie für alle anderen.

Bäuerin Anja Hradetzky mit neugeborenem Kalb Foto: Anja Weber

Man kennt Milchkühe eigentlich ohne Hörner. Diese hier haben welche, warum?

Siehst du, du hast sicherlich studiert und trotzdem keine Ahnung von Landwirtschaft. Die Tiere, die sich auf dem Hof Stolze Kuh befinden, haben Hörner. Wir enthornen nicht, wie es viele Milchbauern tun. Sie passen die Kuh ihren Bedingungen im Stall an. Die Kühe brauchen die Hörner aber, um die Rangordnung festzulegen. Sie sind wichtig für das Sozialverhalten und für die Kommunikation der Tiere; also für den Frieden untereinander. Sie behalten so ihre Würde.

Von den »dummen« Fragen gibt’s noch mehr: Einige haben riesige Hörner, bei anderen scheint die Würde mickriger ausgebildet zu sein.

Dann waren die Vorfahren Hochleistungskühe. Wenn die Kuh mehr Eiweiß braucht, hat sie meist kurze Hörner. Ungarische Steppenrinder, die – wie der Name schon sagt – eher auf kargem Gebiet zu Hause sind, haben dicke, große Hörner. Durch die Hörner fließt Blut und auch die Verdauungsgase zirkulieren hindurch. So kann die Kuh sich über die Hörner kühlen. Wir haben fünf Milchkühe, deren Ahnen viel Leistung erbringen mussten. Sonst halten wir zwei Nutzungsrassen, die Milch und auch Fleisch geben: Allgäuer Braunvieh und Angler Rotvieh alter Zuchtrichtung. Wenn man die kreuzt sind die Nachkommen schwarz. Ich sortiere nämlich nicht die Farben vor dem Decken. Die sind dann sehr robust, haben gute Instinkte, sind menschenfreundlich und versorgen ihr Kälbchen gut. Die sind total umgänglich.

Aber keine Schmusetiere.

Einige Bauern denken, sie müssten ihre Tiere jeden Tag streicheln, damit sie friedlich bleiben. Aber das Gegenteil ist der Fall. Sie verlieren eher den Respekt. Die brauchen ihren Space, brauchen Abstand. Ich muss nicht mit allen kuscheln. Einige lassen sich anfassen, doch ich bestimme, wann das sein soll und wann es wieder vorbei ist. Bullen fasse ich allerdings nie an.

»Wir haben aus Hartz IV heraus gegründet und müssen monatlich 8.000 Euro an die Banken bezahlen. Das ist schon ein krasses Business.«

Anja Hradetzky

Wieso läuft die Milch einiger Kühe in einen Eimer, die der anderen in einen Schlauch?

In den Eimern wird das Kolostrum gesammelt. Das ist die Milch, die auch Biestmilch genannt wird. Diese Milch der ersten Tage nach der Geburt wird separat gesammelt und an Hühner von Freunden verfüttert. Die Milch der anderen fließt über den Schlauch direkt in die Käserei.

Hradetzky wendet sich an eine Kuh.

Alice, raus!

Wow! Die Kuh pariert.

Irgendwann klappt das wie beim Hund auf Kommando. Und schau: Hier läuft das Euter schon von allein. Das ist Oxytocin-Ausschüttung, da fängt die Milch allein an zu laufen. Jede Frau, die schon ein Kind auf die Welt gebracht hat, weiß, wie das ist. Ich habe selbst zwei Kinder, und wenn hier Kälber geboren werden, schütte ich auch die ganze Zeit Oxytocin aus.

Anja Hradetzky im Melkstand Foto: Anja Weber

Inzwischen hat Anja Hradetzky alle erwachsenen Kühe gemolken. Die Jungen spielen und hüpfen nun allein. Hradetzky schaltet die Melkmaschine aus, spült die Schläuche und dokumentiert den Ertrag auf einem Zettel an der Tür. Draußen wartet Lilly, ein freundlicher Australian Koolie. Lilly weiß, wohin es als Nächstes geht: zuerst zu den Pferden und dann zu den restlichen Tieren, die sich auf der Winterweide befinden.

Es ist heute bitterkalt und nass. Wir waten durch Schlamm zur Weide. Macht das den Tieren nichts aus?

Aus menschlicher Perspektive sieht das hier verdammt ungemütlich aus. Aber die Tiere fühlen sich prächtig, sie haben 39 Grad Körpertemperatur und liegen schön entspannt im wärmenden Stroh unter freiem Himmel. Andere Milchbauern, auch manche Biobauern, halten ihre Tiere meist ausschließlich in Ställen. Sie denken, wenn sie die Tür aufmachen, hätten die Tiere genug frische Luft. Es gibt viele Probleme durch Stallhaltung und Fütterung. Fruchtbarkeit, Klauenerkrankungen, schlechte Verdauung … Deswegen kalbt die deutsche Durchschnittskuh auch nur dreimal im Leben und wird dann bereits aussortiert. Denn sie ist schnell kaputt, ausgelaugt und wird geschlachtet. So läuft das.

Und diese Exemplare hier?

Das hier sind Kühe, die jetzt ein Jahr Pause vom Kalben haben. Sie sind nicht tragend geworden, obwohl sie es hätten können, denn sie hatten die ganze Zeit den Bullen vor Augen.

Kuh Florentine mit ihrem Kalb im Unterstand. Die Oma hieß Flora. Das Kalb wurde am Geburtstag von Hradetzkys Schulfreundin Andra geboren und heißt nun Florandra. Foto: Anja Weber

Sie haben ausschließlich Sex, wenn sie Lust dazu haben?

Na klar, wenn die Kuh nicht rindert – so wird die lustvolle Zeit genannt –, springt der Bulle nicht auf. Wahrscheinlich waren sie noch nicht bereit.

Wie alt werden deine Kühe?

Die werden so alt wie sie wollen. Die Älteste ist 14 Jahre alt, aber wir haben ja auch erst vor sieben Jahren angefangen.

Welch eine Idylle!

Nicht nur, ich sehe auch den Modder, durch den wir hier waten, und die tiefen Fahrrillen des Traktors. Wenn uns der Hof gehören würde, würden wir investieren. Wir sind aber nur Pächter. Die gesamte Anlage gehört einem konventionell arbeitenden Landwirt. Da es nicht unser Eigentum ist, lassen wir es so und leben damit. Wenn unser Verpächter nämlich sagt, hier kommt Photovoltaik auf die Weide, dann war es das.

Wer wohnt denn hier in den Unterkünften?

Wir haben hier gewohnt. Es wurde aber dann zu eng mit den Kindern. Jetzt wohnen wir in Oderberg, der nächsten Kleinstadt. Im Dorf haben wir nichts gefunden. Wir hätten gern etwas ausgebaut, aber die Verkäufer wollten lieber zahlungskräftige Städter.

Gentrifizierung auf dem Land?

»Alle Berliner wollen ein schönes Haus in der Uckermark haben, und so bleiben keine Häuser für uns Bauern übrig.«

Anja Hradetzky

Ja, das ist hier wirklich ein Thema! Alle Berliner wollen ein schönes Haus in der Uckermark haben, und so bleiben keine Häuser für uns Bauern übrig. Wir Bauern sind eben nicht so liquide wie ein Berliner Yoga-Studio-Besitzer oder eine PR-Agentin. Die schön sanierten Gebäude stehen die längste Zeit des Jahres leer und wir müssen pendeln. Das ist das Traurige. 28 Tage im Monat Leerstand! Ich verstehe, dass die unter Pandemiebedingungen aus der Stadt wegwollen, wenn die Kultur fehlt. Das ist ja wie ein Haus auf Sylt zu haben und plötzlich ist das Meer weg, so erklärte mir das ein Berliner.

Vielleicht bringen die Städter ja Kultur aufs Land?

Ha, nein, die machen wir schon selbst.

Du lachst?

Wir haben alles, ich vermisse nichts.

Hradetzky beim morgendlichen Melken Foto: Anja Weber

Aber die Landbevölkerung fühlt sich von den Stadtflüchtenden ausgebootet?

Ich schon. Hier gehen jetzt die Häuser für 450.000 Euro weg. Wo soll ich als Bäuerin so viel Geld herholen? Das erwirtschafte ich niemals. Und viel wichtiger: Viele Jungbauern, die Betriebe gründen möchten, können gar nicht erst anfangen. Und wir bleiben als Pächter abhängig. Wir können keine Bäume pflanzen, wir können keine Unterstände bauen, wir können keinen Brunnen bohren – all das, was wir machen würden, um Landwirtschaft zukunftsfähig zu machen. Eine andere schwachsinnige Regel ist: Acker muss immer Acker bleiben und Grünland immer Grünland.

Anja Hradetzky fährt jetzt mit dem Traktor über die Weide und füttert so das Vieh dort. Nun muss sie am Traktor die Klappschaufel gegen ein anderes Ladewerkzeug ersetzen. »Das ist richtig schwer«, schnauft Hradetzky, »mein Mann würde das mit dem kleinen Finger machen.« Den Traktor zahlen die Hradetzkys mit 1.000 Euro pro Monat ab.

Womit fütterst du?

Normalerweise nur mit Heu aus Leguminosen, Gras und Kräutern. Deswegen schmeckt das Fleisch unserer Tiere auch anders, eher wie Wild. Zeitweise wurde uns wegen der afrikanischen Schweinepest sehr spontan gesperrt. Da hatten wir nur wenig Zeit zum Mähen. Dann vier Tage Trocknung. Die hatten wir aber nicht. Da haben wir das Gras in Plastik gewickelt und quasi Sauerkraut gemacht. Und nun ist das Silage aus Gras. Die Sperrung war für uns eine Katastrophe. Total übertrieben. In Polen lässt man die Tiere einfach durchseuchen. Am Ende gibt es eine gegen die Schweinepest resistente Population.

Warum ist es hier so streng?

Im Nachbardorf war der erste Ausbruch in Deutschland. Seitdem denken die, überall müssten Zäune gebaut werden. Sogar in einem Nationalpark, der eine Flussniederung ist, bauen die Zäune! Mitten durch die Flächen! Da kommt nichts mehr durch: keine Rehe, keine Hirschkälber, keine Dachse, keine Biber und all die anderen wilden Tiere auch nicht. Und die kleinen Schweinebauern werden unter Druck gesetzt, bekommen so starke Auflagen, dass sie von heute auf morgen aufgeben müssen. Die kleine Schweinehaltung, wo die Schweine noch in der Erde wühlen dürfen, wird komplett ausgerottet. Nur die Großen überleben.

Hradetzky (Mitte) mit Katha (l.) und Lisa beim Milchabfüllen. Mel (hinten) ist zufällig vorbeigekommen und wird umgehend zum Etikettieren eingespannt. Foto: Anja Weber

Wie wehrt ihr euch?

Der Bauernverband, der eigentlich für die Bauern da sein sollte, ist der Verband der Agrarindustrie. So werden Gesetze nicht verändert, weil die Agrarindustrie so machtvoll ist. Die sind eben finanzkräftig, die haben überall ihre Leute. Irgendwann wird es hier wie in Indien oder in Frankreich sein, dort ist nämlich die Selbstmordrate der Kleinbauern richtig hoch, weil die nicht mehr weiterwissen. Wir fühlen uns nur von der AbL vertreten, das ist die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft. Dort sind wir aktiv.

Der Grüne Cem Özdemir ist ja jetzt Landwirtschaftsminister. Sieht er euch und eure Probleme?

Ich hab vor Freude geheult, als ich Özdemirs Rede bei der »Wir haben es satt«-Demo in Berlin im Livestream gesehen habe. Mein Mann war mit dem Traktor dort. Die Jahre zuvor waren wir 25.000 Menschen und niemanden hat das interessiert. Dieses Mal waren es wegen Corona nur wenige, aber Özdemir kam aus dem Landwirtschaftsministerium und sagte: »Ich unterschreibe alles, was ihr da fordert.« Das ist so toll, das hätte ich nie gedacht! Doch jetzt fängt die Arbeit richtig an, jetzt muss umgesetzt werden.

Es geht zurück in das Hofgebäude. Völlig durchgefroren werden die Gummistiefel abgestriffen. In einem Raum mit Küche und einem großen Tisch nehmen wir Platz. Hradetzky bietet Kaffee an.

Wie viel Löffel Kaffee kommen in die Kanne? Ich trinke selbst nämlich keinen Kaffee, ich hab genug körpereigene Energie. Ich brauche jetzt mein zweites Frühstück: etwas Käse mit Kakao. Das hier war früher unser Verkaufsraum, doch das war unwirtschaftlich, denn unsere Käserin hat sich dauernd mit den Omas verquatscht, statt den Käsebruch abzuschöpfen. Jetzt haben wir draußen aus dem alten Wiegehäuschen einen kleinen Selbstbedienungsladen gemacht. Wir füllen nur noch auf, jeder kann reingehen, sich bedienen und das Geld in eine Milchkanne werfen. Kontaktfrei sozusagen.

»Ich hab vor Freude geheult, als ich Özdemirs Rede bei der »Wir haben es satt«-Demo in Berlin im Livestream gesehen habe.«

Anja Hradetzky

Sie geht zu einer Wand mit Fotos, die zeigen, wie sie 2014 hier begonnen haben. Dann zeigt sie auf einer Landkarte, wo sich die Weideflächen befinden.

Die Weiden, auf denen die Kühe stehen, sind weit auseinander. Das ist für uns wirklich eine Herausforderung. Wenn man hier über die Brücke fährt, sind dort die Bullen untergebracht. Und wenn man weiterfährt, dort auf der anderen Kanalseite, grasen die Färsen, und wenn man dann noch weiter fährt, kommt man zu den Milchkühen. Weil die Flächen so weit auseinander liegen, fahre ich wahnsinnig viel Auto. Selbst zum Reiten ist es zu weit. Voll unökologisch, geht aber nicht anders. Es ist schon oft passiert, dass hier Leute aus dem Bus gestiegen sind und fragten: »Wo ist denn hier der Bauernhof?« Deswegen haben wir unsere Hoffassade mit Kuh- und Bauernhof-Motiven ansprühen lassen.

Wie habt ihr damals diesen Hof überhaupt gefunden?

Ich habe ein Buch geschrieben, das weißt du schon, oder?

Selbstverständlich: Wie ich als Cowgirl die Welt bereiste

Ich versuche, es kurz zu machen: Ich war schwanger und wollte auf dem Land leben. Wir sind hier in Stolzenhagen erst einmal in eine Mietwohnung gezogen. Dann haben wir entdeckt, dass bei dieser ehemaligen LPG-Anlage der vordere Stall leer steht. Dann haben wir mit dem Eigentümer und dem Verein des Nationalparks gesprochen, ob sie an uns verpachten. Sie alle haben uns damals die Chance gegeben, überhaupt anfangen zu können. Ohne eigenes Land und ohne Geld.

In der eigenen Käserei wird Hartkäse hauptsächlich im Frühsommer gemacht, wenn besonders viel Milch zur Verfügung steht. Ansonsten werden Frischkäse und Weichkäse wie Camembert produziert. Der Hartkäse muss regelmäßig gewaschen werden, eine anstrengende Arbeit. Foto: Anja Weber

Wie kommt ihr heute finanziell zurecht?

Das ist schon ein krasses Business. Wir haben 350.000 Euro Umsatz im Jahr. Wir haben immer gehofft, dass wir den Hof übernehmen können. Aber der Verpächter will zu viel Geld. Das würden wir bis ans Ende unseres Lebens nie erwirtschaften können. Das sind ja auch noch DDR-Altlasten. Asbest und so. Müll ohne Ende. Diese Hügel hier um die Gebäude, das ist alles Schutt. Normalerweise ist es ja so, dass ein funktionierender und gut ausgestatteter Hof von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das war bei uns nicht so, wir haben tatsächlich aus Hartz IV heraus gegründet. So müssen wir heute monatlich 8.000 Euro an die Banken bezahlen, die all unsere maschinelle Ausstattung vorfinanziert haben. Und dieses Geld muss neben den Lohnkosten für die Angestellten reinkommen. Den ersten Kredit haben wir auch nur bekommen, weil die Frau von der Bank an uns geglaubt hat.

Hättest du gedacht, dass in einem bäuerlichen Leben Geld eine so große Rolle spielt?

Ich habe nicht gedacht, dass es um so viel Geld geht. In Studienzeiten bin ich gut mit 400 bis 500 Euro klargekommen und konnte davon sogar noch was sparen. Heute überweise ich große Summen. Meist an die, die sowieso schon das Land besitzen. Die können dann davon noch mehr Land kaufen. Diese Machtkonzentration wird immer stärker.

Wie verkauft ihr eure Produkte?

Wir machen Direktvermarktung. Auch dabei ist mir mein autistisches Gehirn eine große Hilfe. Ich merke mir jede Bestellung bis ins Detail. Ich mache Touren nach Berlin und fahre die Sammelbestellungen ab, die Stationen der Marktschwärmer und ausgewählte kleine Bioläden. Das dauert insgesamt so 15 Stunden. Vorher melke ich aber noch.

Hradetzky fährt Heu zu den Kühen und Pferden Foto: Anja Weber

Leben hier deine glücklichen Kühe neben den unglücklichen der anderen?

So darfst du das auf keinen Fall schreiben! Dann werden wir aus dem Dorf gejagt. Dann sagen die anderen Bauern: »Anja, was erzählst du denen denn?« Also: Alle machen hier ganz normale Landwirtschaft. Unsere Nachbarn bewirtschaften tausend bis zweitausend Hektar. Wir machen es einfach anders: wesensgemäße, naturnahe Milchviehhaltung.

Seht ihr euch als die, die es anders machen, unter nachbarlicher Beobachtung?

Sie gucken schon und beobachten uns ganz genau! Aber alle! Neulich sprach mich ein Straßenbauarbeiter an, als ich vom Melken kam: »Wo kann man denn eure Sachen kaufen? Bei Kaufland gibt es die ja nicht.« Da merkte ich, hey, der macht sich Gedanken und zeigt Interesse. Langsam begreifen die Menschen, dass die Bauern das Essen machen. Und dass man mit uns sogar in Kontakt treten kann.

Ändert sich da gerade was?

»Einmal vergaß ich, das Tor zu schließen, als ich ein Kälbchen ohrmarken wollte. Die Mutter kam durch das Tor und machte mich platt.«

Anja Hradetzky

Naja. Die meisten Menschen stopfen irgendwas in sich rein und wissen eigentlich nichts über die Zusammenhänge und die Produktion. Mit jedem Einkauf befördert man, wie auch künftig Essen produziert werden wird. Das betrifft nicht nur die Fleischesser und die Massentierhaltung. Das betrifft auch die vegan lebenden Menschen. Denn die befördern auch moderne Sklaverei. In Almería, Südspanien, zum Beispiel beim Tomatenanbau. Oder Cashewkerne, ganz, ganz schlimm, die Arbeiter verätzen sich ihre Hände beim Aufbrechen der Schale. Und da denken die Veganer, mit ihrer Cashewmilch tun sie sich und der Welt was Gutes!

Kaufst du selbst im Supermarkt?

Gestern war ich mal bei Netto, da hat mein kleiner Sohn gesagt: »Oh Mama, schau mal, es gibt Birnen. Ich würde gern Birnen essen.« Da sagte ich: »Es wachsen gerade keine Birnen! Dann antwortet er: »Aber dort sind doch welche!« Dann erklär ich ihm, was regionales und saisonales Essen bedeutet. Eben nichts, das aufs Schiff geladen und hierher gekarrt wird. Wir tauschen unsere Produkte mit anderen Höfen, zum Beispiel bekommen wir Eier, weil wir keine eigenen Hühner mehr haben. Und deswegen sind heute die Fridays for Future so wichtig. Die Kinder sind wieder empfänglicher für solche Sachen, und sie fordern es von den Eltern ein. Deswegen habe ich die Hoffnung, dass wir in Zukunft mehr regionale Lebensmittel produzieren und die Menschen hier ernähren können, denn das macht uns unabhängig.

Du liebst deine Tiere, das sieht man, aber ihr schlachtet auch Rinder.

Ja, das gehört einfach dazu. Wir ziehen auch alle männlichen Kälber auf. Die werden mit drei Jahren getötet, dann sind sie groß und dick. Die kleinen Kälbchen zu schlachten wäre nicht so einfach für mich, obwohl es lukrativer wäre.

Hradetzky treibt auf ihrem Irish-Tinker-Pferd Vicky die Kühe Foto: Anja Weber

Was entscheidet über den Tod eines weiblichen Tieres?

Erstens: Sie ist zu phlegmatisch, läuft schlecht oder hat nicht genug Lebensgeist. Zweitens: Sie hat einen Eutererreger oder ist drittens unbezähmbar, springt über Zäune und haut ab. Ein No-Go bei Weidehaltung.

Wie läuft die Tötung ab?

Sie werden auf der Weide von einem Jäger mit einem Kugelschuss getötet. So wird ihnen der Transportstress erspart. Der Jäger trifft und sie fallen betäubt um. Dann schlitzt der Jäger den Hals auf, wir ziehen sie am Trecker hoch und lassen sie über einem Bottich ausbluten. Im Schlachthof wackeln und zucken Tiere oft noch eine halbe Stunde, bei uns nur ein paar Minuten. Es gibt jetzt auch 'ne neue EU-Regelung, 180 Seiten, lies das mal. Ich habe studiert und versteh das nicht. Wir müssen uns jetzt jedenfalls einen Schlachtanhänger kaufen, das kostet wohl auch wieder 10.000 Euro.

Wird das Tier komplett verwertet?

Natürlich, wäre ja sonst schade drum. Ich hab mich ja schließlich auch die ganze Zeit um das Tier gekümmert. Es ist also auch eine Wertschätzung meiner eigenen Arbeit. Ist lustig, wenn hier Gastronomen aus Berlin anrufen und 30 Bäckchen bestellen. Dann antworte ich: Über zwei Jahre verteilt, können Sie die gern haben. Die meisten wollen Steak und Hack. Es gibt aber auch viele Schmorstücke, bei denen es schade wäre, sie kleinzuhäckseln. Es gibt eine Ernährungsweise nach Weston A. Price. Da kaufen die Menschen auch Knochen und Innereien. Das würde sonst liegen bleiben.

»Ich brauch jetzt bald mal Menschenpause«: Anja Hradetzky Foto: Anja Weber

Lebst du eigentlich – trotz aller Schwierigkeiten– deinen Traum?

Ja. Oft wird zu mir gesagt: »Tolles Projekt habt ihr da aufgezogen!« Ja, hallo Leute, das ist kein Projekt, das ist mein Leben! Ich brauche jetzt aber bald mal Menschenpause.

Okay, okay, eine Frage noch: Kennst du Angst?

Ja. Ich wäre zweimal fast tödlich verunglückt und musste diese Traumata bewältigen. Noch immer gibt es Momente, in denen meine Beine anfangen zu schlottern. Dann muss mein Kopf den Körper besiegen.

Was ist damals passiert?

Einmal vergaß ich, das Tor zu schließen, als ich ein Kälbchen ohrmarken wollte. Die Mutter kam durch das Tor und machte mich platt.

Wie platt?

Die Kuh rennt dich um, dreht sich auf dir im Kreis und trampelt auf dir rum. Wer helfen und dich rausziehen will, kommt da einfach nicht ran. Es war aber frisch eingestreut und ich hatte eine dicke Wollweste an, so wurde mir nur eine Rippe angebrochen. Das zweite Mal war es ein Bulle, der mich nicht ernst genommen hat und mich dominieren wollte. Eines Tages hat er mich an die Wand gedrängt, ich sprang auf ein Gitter, das ich gerade an der Wand befestigen wollte, und der Bulle donnerte immer wieder dagegen. Ich habe krampfhaft versucht, dort oben zu bleiben. Ich wusste: Wenn ich es nicht schaffe, ist es vorbei.

Die Fragen stellte DANA GIESECKE. Das Gespräch ist zuerst in der März-Ausgabe unseres Magazins taz FUTURWEI erschienen.

Dieser Beitrag ist im März 2022 in taz FUTURZWEI N°20 erschienen.